Flussmenschen

Der Artikel ist auch als druckfreundliches PDF erhältlich

Die Donau, Fluss vieler Eltern, ohne Anfang und Ende.
Harald Koisser über den Fluss der Flüsse, Flussmenschen und das Fließen.

Das Wasser steigt an, flutet den Auwald, tritt in alle Ritzen der Häuser, die sich zu nahe an das Ufer des mächtigen Stroms gewagt haben. Die Tiere, die nicht fliegen können, fliehen in trockene Regionen. Das Wasser leckt am Hochwasserschutzdamm. 44 Kilometer ist er am linken Donauufer lang, 22,5 am rechten. Am Damm oben stehen Menschen. Menschen von der anderen Seite, der trockenen. Jener Seite, die vom Damm geschützt wird. Der Damm schützt uns, sagen die Leute.

„Der Damm trennt die Menschen von der Donau“, sagt Sabine Bergauer. Sie betreibt mit ihrem Lebensgefährten Martin Zöberl eine Schiffmühle in Orth an der Donau. Sie arbeiten am Fluss und mit dem Fluss.

Eine Mauer schließt immer etwas ein und etwas aus. So schützt der Damm die Menschen, doch er trennt sie wohl auch vom Fluss. Sie sehen ihn nicht mehr, spüren ihn nicht mehr, müssen sich um seine Launen nicht mehr kümmern. Sie besuchen ihn auch nicht mehr. Sabine Bergauer erzählt, dass sie erst kürzlich in einer Schulklasse in Orth an der Donau (der Name sagt schon, dass der Ort nahe am Fluss liegt) gefragt hat, wer denn in diesem Jahr in den Donauauen oder am Fluss war. Von 25 Kindern haben zwei aufgezeigt.

Aber wie sollen denn die Leute in den Donauauen ihren Fluss schätzen, wenn selbst die Hauptstadt ein eigentümliches Verhältnis dazu hat? Wien liegt ja bekanntlich am Donaukanal, nicht an der Donau. Der Hauptarm des Flusses, um den sich Wien gruppiert hat, ist durch die schon im 16. Jahrhundert begonnenen Regulierungen weiter nach Osten gerutscht, sodass die Donau fast unbemerkt an Wien vorbeifließt. „Wien schätzt die Donau nicht“, meint der Schriftsteller Péter Esterházy, „bemerkt sie gerade nur, bittet zum Vorzeigen den Kanal herein und plätschert an der Alten Donau.“

„Der Damm schützt mich vor den Menschen“, scherzt der Betreiber einer Gastwirtschaft im Überflutungsgebiet der Donauauen. Zig Male ist die

Donau durch seine Gaststube geflossen, hat sie oft bis zum Anschlag geflutet. Wenn die Donaukarpfen nicht gebacken, sondern leibhaftig durch die Stube schwimmen, ist eine Auszeit, eine besondere Au-Zeit. „Wenn das Wasser wieder absinkt, ist alles unglaublich still“, erzählt Martin Zöberl. Man kann kaum mit der Zille fahren, nicht durch das Wasser waten. Man muss warten. Niemand von außen kommt zu den Überschwemmten und Überfluteten. Wie denn auch?

Eine Katastrophe?
Oder einfach: Leben im Fluss

Die Menschen erklimmen den Damm, um Hochwasser zu schauen, Katastrophe zu schauen. Aber wann ist etwas eine Katastrophe? Es gibt Trockenzeiten, Überflutungen, machtvolle 30 Zentimeter dicke Eisschollen, groß wie ein halbes Fußballfeld, die den Fluss im Winter herabgleiten. Und es gibt Paarungszeiten. „Die Brachsen laichen gerade im Barbarakraut ab, die kugeln sich richtig darin. Was für einen Lärm die machen dabei. Ich erfreue mich an den Fischen.“ So erzählt Martin vom intimen Au-Leben. Vor einigen Tagen gab es auch mächtig Aufruhr in der nahen Graureiherkolonie. Ein Seeadler hat sich herabgestürzt und einem Reiher Beute weggenommen, fast den Reiher selbst geschlagen. Eine Katastrophe? Oder einfach: Leben im Fluss?

Der Mühlenkater Bibic hat Besuch auf der Mühle entdeckt, er ist neugierig und kommt angeschlichen. Er duckt sich und springt vom Ufer auf das Boot, das doch ein bisschen weit entfernt ist. Platsch. Macht nichts. Bibic schwimmt. Er hat sich längst mit dem Fluss angefreundet.

Sabine und Martin dürfen nicht in Katastrophen denken, sonst wäre ihr Leben am Fluss nicht möglich. Sie haben sich eingebildet, eine richtige Schiffmühle auf der Donau zu betreiben. Sie haben sie selbst gebaut, nach alten Originalplänen. Keine dieser Schaumühlen, wo sich die Räder pro forma drehen und einen Höllenlärm machen. Die Mechanik ist feinste Präzisionsarbeit. Das Holzzahnrad ist so konstruiert, dass man es justieren kann, ähnlich wie beim Wuchten eines Autoreifens. Die Schiffsmühle ist echt, mahlt wie vor zweihundert Jahren. Aber erklär das einmal der Bezirkshauptmannschaft! Sabine und Martin wollten ihren Spleen vergesellschaften und haben um Betrieb einer Schiffmühle angesucht. Telefonisch, via Mail, ganz im Stil der Jetztzeit, nur passte das Objekt ihrer Freude eben nicht in die Jetztzeit. Die AnrufbeantworterInnen der Bezirkshauptmannschaft haben drei Mal einfach aufgelegt, als Sabine fragte, was man denn brauche, um eine Schiffmühle zu betreiben. Das war 1997.

Die Mühle ist abgesoffen – alles bestens

Zehn Jahre später haben 10.000 Menschen die Schiffmühle besucht. Fast schon zu viel für Müllerin und Müller.„Leute aus dem Ort halfen uns bei den Führungen“, erzählt Sabine. Dann im Jahr darauf, 2008, ist die Mühle leck geschlagen und abgesoffen. Die Verankerung am Ufer hat gehalten, die Mühle hat sich geneigt und ein Vollbad genommen. „Es war eine bittere Zeit“, erzählt Martin Zöberl, „die Donau ist bei der einen Tür hereingeflossen und bei der anderen hinaus.“ Dann ist er in einen Taucheranzug gestiegen und hat sich die Mühle unter Wasser von innen angesehen. „Ich habe durch die Ritzen der Planken geschaut, die Sonne ist hereingekommen, und dort, wo sonst Mehlmotten sitzen, sind Bachflohkrebse gesessen. Es war wunderschön und ich dachte mir: Es ist alles bestens.“

Die Donau ist wichtig für mich als Seelenausgleich.
Wenn ich ohne Donau sein müsste, würde ich verenden.
Auf der Donau fühle ich mich sehr weiblich, sehr ich selbst.
Als ich nach China aufbrach, verabschiedete ich mich von meinen Freunden. Ich saß am Ufer der Donau und dachte, sie wird rinnen, wenn ich wiederkomme. Ein tröstliches Gefühl.
Wenn ich einmal alt bin und im Rollstuhl sitze, möchte ich, dass mich jemand zur Donau hinstellt.

All diese Sätze stammen von „Donaumenschen“. So heißt die Ausstellung, die Sabine Bergauer auf Schloss Orth gestaltet hat. „Nachdem die Mühle gesunken war, habe ich endlich Zeit dafür gehabt“, sagt sie. Auch so kann man eine „Katastrophe“ sehen. Sie zerstört und schafft etwas anderes. Sabine hatte plötzlich Zeit, Menschen zu befragen, die sind wie sie: flussverbunden. Es ist eine gefühlvolle, stille Ausstellung. Die Bilder der Donaumenschen sind an dünnen Schnüren von der Decke abgehängt, sie schwingen im Raum, ein Gefühl wie auf Schiffsplanken. Über Kopfhörer kann man hören, was sie zu sagen haben, wie sie vom Fluss erzählen. Ein langes, am Boden aufgeklebtes Seil stellt die Donau und all ihre Windungen maßstabsgetreu dar. Alle 3.000 Kilometer von der Quelle bis zur Mündung.

Der Fluss – Sinnbild des Lebens

Seit Heraklit kann man sich dem Bild des Flusses als Lebensfluss nicht entziehen. Das Geboren-Werden, das Anwachsen, das permanente Mäandern, die Ruhe und die Stromschnellen und der Tod, der ja doch nichts weiter ist als ein Ergießen in etwas anderes und Größeres. Die Donau stirbt im Donaudelta. So versorgt sie das Schwarze Meer jährlich mit 200 Milliarden Kubikmeter Wasser. Welch ein machtvolles, schöpferisches Ende! Aber der Fluss als Sinnbild der Identitätsfrage bleibt eine trockene Metapher, wenn wir ihn nicht sehen wollen. Wenn wir, die wir alle Flussmenschen sind, uns selbst nicht sehen wollen.

Der Fluss ist ein alter Tao-Meister, der seine Unterweisungen erteilt

Danuvius war der römische Flussgott, den die Römer in bewährter Art eingemeindet und geschlechtlich umgewandelt haben. Ursprünglich hieß sie Danu und war die keltische Flussgöttin. Aber es braucht nicht unbedingt Metaphysik, denn „Danu“ heißt auf Indogermanisch und Keltisch ganz einfach „Fluss“. Die Donau ist der Fluss schlechthin und somit wunderbar geeignet dafür, sich mit ihr metaphorisch zu vereinigen. Nehmen wir die Einladung zum Mitfließen an. Schließlich, so merkte der aus Triest stammende Historiker Claudio Magris an, wäre der Fluss ein alter Tao-Meister, der das Ufer entlang seine Unterweisungen über das große Lebensrad und die Zwischenräume in seinen Speichen erteilt. „Unbekümmert […] fließt die Donau ins Meer, der großen Überzeugung zu.“ (Magris). Sie ist lange und weise, sagenumwoben und vor allem: Sie hat keinen klaren Anfang und kein klares Ende. Das macht die Donau eigenwillig. In Ulm, in Wien, in Budapest oder Braila kann man sich an das Ufer stellen, mit dem Finger auf den Strom zeigen und „Donau“ sagen. Diese Form des ostensiven Erkennens funktioniert weder an der Quelle noch am Donaudelta.

„Hier entspringt die Donau“, steht auf einer Tafel im Fürstenbergpark zu Donaueschingen. „Hier entspringt der Hauptquellfluss der Donau“, steht an der Quelle der Breg, die zusammen mit der Brigach den wichtigsten Donauzufluss bildet. Die Bregquelle ist um exakt 48,5 Kilometer weiter weg vom Schwarzen Meer als jene in Donaueschingen, einen Verweis, den sich Irma und Ludwig Öhrlein, auf deren Grundstück sich die Bregquelle in Furtwangen befindet, nicht nehmen ließen. Die Öhrleins haben unter Aufbietung aller Kräfte geforscht und dokumentiert und „alle erinnern sich an den Tag, da der Bürgermeister von Furtwangen, begleitet von zahlreichen Mitbürgern, in die Donaueschinger Quelle voller Verachtung eine Flasche Bregwasser goss“ (Magris). Man hört in Furtwangen nicht gerne, dass die Breg ein Donauzufluss wäre. Die Breg IST die Donau, da hier die nachweislich mündungsfernste Quelle liegt. Aber was sieht man an der Quelle? Eine Feuchtwiese, ein Bächlein, eine Traufe. Wo kommt das Wasser eigentlich her? Claudio Magris erzählt von einer mürrischen alten Frau, die es wusste. Das Wasser käme aus einem Spülstein, der ständig überlaufe wegen eines uralten Wasserhahns, den niemand richtig zudrehen könnte.

Welch großartiger Gedanke, eine schöne Illustration des Heute, wo man sich die Natur nur noch als Nationalpark, somit als Konservierungskunst des Menschen, vorstellen kann. Der Mensch macht sich die Natur untertan. Er dreht den Wasserhahn auf und erschafft Flüsse.

Ein Fluss vieler Eltern

„Ein freundlicher Herr, der am Ufer (Anm.: das Donauufer bei Immendingen) entlanggeht, erzählt uns, dass im Sommer das Flussbett an dieser Stelle vollkommen ausgetrocknet sei. In Ulm dagegen, wenige Kilometer flussabwärts, ist der Fluss – den man gleichwohl Donau nennt – breit und schiffbar.“ (Magris). Im heißen Sommer also erübrigt sich der Streit zwischen Donaueschingen und Furtwangen, denn da kommt die Donau aus keinem der beiden Orte. Woher aber? Und: Wer ist die Donau, „jene Donau, die es gibt und wieder nicht gibt, die an mehreren Stellen entspringt und von mehreren Eltern abstammt“ (Magris)?

„Wer ist es, der zwischen Donau und Nicht-Donau unterscheiden könnte?“, brüllte der Ingenieur Neweklowsky im Angesicht seines Todes. Siebzehn Stunden lang. Zumindest behauptet das Péter Esterházy in seinem eigenwilligen Roman „Donauabwärts“. Ernst Neweklowsky war ein Flussmensch durch und durch, einer der akkuraten Sorte. Er hat ein Buch über den Oberlauf der Donau (womit er den Abschnitt zwischen Ulm und Wien meinte) geschrieben, 2.164 Seiten und fünf Kilo schwer. Er hat katalogisiert, erfasst, gesammelt. Die Geschichte der Donau-Schifffahrt, Strecken und Arten der Wasserfahrzeuge, Teile der Gebrauchsgegenstände, er kartographierte Strudel und Untiefen, Furten, Übergänge, aber auch Sitten und Gebräuche der Schiffer. Zollrechte und Sagen, Donau-Romane und Aberglauben. Wunderlicher Newlekowsky, der versucht hat, seinen Fluss und sein Leben (der Fluss war sein Leben!) total zu erfassen und detailreich zu katalogisieren. „Jede Totalität ist den Göttern Anlass zu Heiterkeit und Gelächter“, wie Kierkegaard anmerkte.

Wir wollen den Fluss festhalten, anhalten

Newlekowsky konnte mit seiner Methode den Strom nicht total erfassen, er schaffte „nur“ den Oberlauf. Die Quelle und die Mündung der Donau entzogen sich seinem Erkenntnisweg ohnehin.
In jedem von uns schlummert ein Festhaltekünstler wie Newlekowsky, etwa wenn wir fotografieren, alles festhalten wollen, alleine tausende Fotos vom letzten Urlaub, vom Geburtstag, von der Firmenfeier. Immer die Kamera wie ein Abstandshalter zwischen uns und der Welt. Wer soll das alles betrachten, wen soll das interessieren? Wir können den Fluss so nicht aufhalten, halten uns bloß fern von ihm. Nehmen wir die Kamera doch einmal nicht mit und entscheiden wir uns stattdessen für das wirkliche Da-Sein. Einfach mitfließen!

Am Ende – die große Auflösung

Schau, das Delta! „Die Seitenarme des Flusses gehen ihre eigenen Wege, emanzipieren sich von der gebieterischen Einheitlichkeit und Identität, sterben, wenn es ihnen gutdünkt, der eine etwas eher, der andere etwas später, wie das Herz, die Nägel und die Haare, die der Totenschein von dem Versprechen wechselseitiger Treue entbindet. Der Philosoph geriete in Schwierigkeiten, wenn er in diesem Gewirr mit dem Finger die Donau bezeichnen wollte, seine Ostension würde zu einer unbestimmten, vage ökumenischen kreisförmigen Geste, denn die Donau ist überall, und auch ihr Ende existiert in jedem einzelnen der 4300 Quadratkilometer des Deltas“ (Magris).

Der Fluss macht die Leute ruhig

Der Fluss mag rasen, dahinschnellen, strömen – und doch: „Der Fluss macht die Leute ruhig“, erzählt Sabine Bergauer. Auf der Schiffmühle hat es viele Feste gegeben, doch niemals eines mit lauter Musik und Ausschweifungen. Sogar tobende Schulklassen werden stiller und staunender, je länger sie auf der Mühle sind oder auf der Tschaike über die Donau geführt werden. Das Malmen des Mühlsteins und des Stromes zeigen Wirkung. Auf der Tschaike mitten am mächtigen Strom erwacht die Demut. Wirklich entscheidende Fragen kommen aus den Untiefen: Wie sehr gebe ich mich dem Fließen hin? Wie sehr erlaube ich mir, mit den ruhigen und stürmischen Gezeiten mitzugehen? Wie sehr bin ich reguliert? Wage ich es, über die Ufer zu treten und alles zu überschwemmen? Wäre es eine Katastrophe? Wäre es fruchtbar? Und was passiert, wenn jemand den Wasserhahn in Furtwangen zudreht?

Donaumenschen, Ausstellung auf schlossORTH, geöffnet noch bis 1. November täglich von 9 bis18 Uhr, ab 1. Oktober von 9 bis 17 Uhr

Zum Nachlesen:

Péter Esterházy, Donauabwärts (ein wunderlicher Donauroman)
Claudio Magris, Donau (angeblich die Biografie eines Flusses, de facto ein Gelehrtenwerk, das in Geschichte, Geschichten und Literatur abschweift; während Esterházy am Schluss eine Liste der „nicht benutzten Fachliteratur“ anführt, darf man bei Magris sicher sein, dass er wirklich alles gelesen und benutzt hat)

Zum Besuchen:
http://www.schiffmuehle.at/

Keine Kommentare möglich.