Innehalten heißt sehen, wohin man geht
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Alfred Komarek hat eine „Anstiftung zum Innehalten“ verfasst. Im Gespräch mit Harald Koisser erzählt er, wie er das Innehalten verlernt und wiedergefunden hat und warum es für die Menschen so wichtig ist.
Ich bin ein großer Freund der Stille und des Innehaltens, wie man auch an wirks ablesen kann. Es erscheint nur vier Mal im Jahr.
Sehr gescheit. Es werden ja Sachen in Mengen gedruckt, wo man sich fragt, wer da die Zielgruppe ist.
Wird überhaupt noch gelesen?
Ja und nein. Es gibt den Trend zum immer nachlässigeren Lesen, was durch Magazine wie NEWS bedient wird. Aber wenn sich das Stakkato nicht mehr steigern lässt, dann schlägt das Pendel in Richtung Langsamkeit. Allerdings kommen dann auch die falschen Propheten. Das sind diejenigen, die uns jetzt das Stakkato verkauft haben. Die kommen dann auf leisen Sohlen und verkaufen uns Stille-Surrogate, die wieder nur Geld kosten. Dabei kann man sich das alles selber machen.
An diesen Stille-Produkten merkt man aber, dass der Trend dorthin geht.
Ja, das habe ich an der Verfilmung meines letzten Polt (Anm.: von Komarek geschaffene Komissar-Figur) gemerkt, die extrem langsam und ereignisarm ist. Dabei steht im Fernsehlehrbücherl, es braucht schnelle Schnitte und wenn in den ersten zehn Sekunden nichts passiert, switchen die Leute weg. Stimmt gar nicht. Eine Million Zuseher! Den Effekt kennt man auch von Partys. Wenn alle laut und aufgeregt reden, dann fällt der eine klug und leise gesprochene Satz einfach auf. Das Zuviel erregt die Sehnsucht nach Fantasie, nach dem Eigenen, nach der Selektivität.
Es ist ja interessant, dass Sie das Thema des Innehaltens nicht dem Polt als Kriminalfall untergejubelt, sondern ein sehr persönliches Buch geschrieben haben. Es ist gewissermaßen Ihr eigenes Innehalten.
Ja, es sollte nicht an einer Figur festgemacht werden. Ich bin auch kein Lebenshilfemensch oder Prophet am Pfade der Erkenntnis, obwohl sich soetwas vielleicht besser verkaufen würde. Ich kann nur den freundlichen Rempler, den ich mir selber gebe, an die LeserInnen weiter geben. Daher die liderliche Anstiftung zum biederen Innehalten.
Innehalten ist weise.
Ja, das macht auch ein Läufer, um die richtige Abkürzung zu nehmen. Die anderen rennen hechelnd den langen Weg und kommen später an. Insoferne kann Innehalten auch beschleunigend wirken.
Mussten Sie sich selbst zum Innehalten anstiften?
Nicht immer. Als Schüler und Student habe ich es recht gut gekonnt. Als Student ging es leichter, da war das Korsett nicht so eng. Aber irgendwann habe ich das Innehalten verlernt. Ich dachte, das muss so sein. Da kam die Phase der schnellen Autos und des Hinterherhechelns.
Und wie ist es zurückgekommen?
Eines Tages durch einen Blick aus dem Fenster auf meinen Audi 100. Ich habe hinuntergeschaut und mir gedacht: du frisst einfach mein Geld und bist sonst für nichts gut. Da bin ich dann wieder auf die Ente umgestiegen (Anmerkung für jüngere Generationen: Citroën 2CV) und dabei geblieben.
Wir sind alle einem Zeitkorsett unterworfen und der Notwendigkeit, unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bei aller Anstiftung wird das Innehalten oft schwierig.
Der von mir sehr geschätzte Zeitforscher Geißler meinte, man muss die Zeit der Uhren und die Zeit des Lebens in Einklang bringen. Ich komme nicht um die Disziplin und die Leistung herum und auch nicht um die Zeit an sich. Dazu gibt es zu viel koordinierte Abläufe. Andererseits muss man sich dem nicht andauernd zu hundert Prozent unterwerfen. Ich hatte einmal einen Anruf von einem Magazin, die wollten eine Geschichte innerhalb von drei Tagen. Das ging echt nicht und ich sagte nein, innerhalb von drei Wochen – das ginge. Darauf kam die Antwort: ist in Ordnung.
Das ist eine bizarre Erfahrung, die jeder schon gemacht hat. Ich habe, wie Sie, in der Werbung gearbeitet, wo alles aus Prinzip unter Hochdruck passiert. Nachdem man sich dann den ersten Rückenwandinfarkt geholt hat, merkt man, das stimmt ja gar nicht. Das ist ja nur ein virtueller Druck.
Es ist eine künstlich aufgebaute Bedeutsamkeit. Und es gibt ja auch diese künstliche Symbolwelt. Wenn ein Manager in sein Hotelzimmer kommt und der Kühlschrank ist versperrt, dann weiß er, er ist am absteigenden Ast. Oder wenn der Obstkorb nicht am Tisch steht. Ich selbst habe mich ja auch vom Kleinzimmer mit Blick auf den Lichtschacht zum Obstkorb hoochgearbeitet.
Ja, bei Siemens in den 90er Jahren war das so, dass die Bedeutsamkeit daran gemessen wurde, wieviele Fenster man in seinem Einzelbüro hatte. Vielleicht gilt das immer noch.
Ich habe Manager kennengelernt, die mir gesagt haben, dass sie wissen wie kindisch das ist. Aber sie hängen in dem Spiel so sehr drinnen, dass sie nicht hinaus können. Da gibt es wirklich kein Innehalten. Die Alternative wäre hier bloß Arbeitslosigkeit.
Dieser Wahn und dieses Tempo sind nicht nur selbstgewähltes Schicksal.
Oh, das beginnt schon mit den Kirchenglocken. Von dort bis zur Stechuhr ist nicht viel Umweg. Der Mensch war das erste Mal in ein Zeitkorsett eingespannt, das nichts mehr mit Frühling und Herbst und Morgen und Abend zu tun hatte.
Kirchenglocken waren Rhythmusgeber des Lebens.
Ja, aber auch Befehlshaber. Sie sagten: jetzt hörst du auf zu arbeiten. Jetzt ist Kirche. Jetzt wird jemand getauft. Das muss man schon auch als Machtdemonstration der Kirche verstehen. Das erste, was die Uhren gelernt haben, war Glockenläuten. Die sekulare Gesellschaft hat dieses Zeitkorsett nahtlos übernommen und noch verfeinert. Der Rhythmus wurde gesteigert, die arbeitsteilige Gesellschaft ist gekommen, immer mehr Abläufe mussten koordiniert werden, immer mehr Menschen exakt zusammenarbeiten. Und dann hat es immer Ausreißer gegeben, nämlich die Mächtigen. Die haben es sich leisten können, auf die Kirchenglocken nicht zu hören. Naja, es sind nicht immer die Sympathischesten, die inne halten. Aber das Wort Innehalten mag ich. Es heißt ja nicht, der Gesellschaft davon zu laufen, es heißt nicht Stillstand oder Bremse. Es heißt nur, den Schritt zu verhalten, und zu sehen, wo gehe ich hin.
Eine gewisse Wachheit also und Selbstmächtigkeit des Menschen.
Selbstbestimmtheit als Gegenpol zur Beliebigkeit, welche die derzeit grassierende Sucht ist. Es ist sehr viel von allem da, hat aber nichts zu bedeuten. Das Gegenteil davon ist das, was ich selbst will und wähle. Das hat mit Verantwortung zu tun, aber auch mit Lust und Lebensfreude.
Tragen Sie eigentlich eine Uhr?
Ja, eine Taschenuhr. Eine Armbanduhr drängt sich zu sehr auf. Bei jeder Bewegung sieht sie mich an und sagt mir die Zeit. Die Taschenuhr aber ist wie ein Butler, der erst antwortet, wenn er gefragt wird. Ich habe heute nochdazu ein besonders seltsames Exemplar bei mir. Da muss ich noch den Deckel öffnen. Erst dann habe ich die Zeit in der Hand, im buchstäblichen wie übertragenen Sinn. Dann klappe ich zu und die Zeit kann mich wieder gern haben.
Sie haben ja auch maßgeblich im Hörfunk mitgearbeitet, einem Medium, das ebenfalls der Beschleunigung unterworfen ist. Ich kann mir Ö3 nicht mehr anhören, auch wenn ich damit groß geworden bin.
In den 80er Jahre war das noch Jugendkultur. Schnell, laut, Krach, im guten Sinn. Dann ist das zu Musikteppich für Werbung geworden. Die Aufgabe ist, die HörerInnen so lange wie möglich am Gerät zu halten. Was mich an Ö3 stört ist, dass ich die Moderatoren nicht mehr auseinander halten kann. Die Musik wird vom Computer gesteuert, spät am Abend wird es brav ruhiger, nostalgischer. Da gibt es niemanden mehr mit Erfahrung und persönlichen Vorlieben. Das hört man eben. Soll kein Schwanengesang sein. Dafür ist ja Ö1 hörbarer geworden. FM4 hat ein wenig die Nachfolge von Ö3 angetreten und mir gefallen die Lokalradios, wie etwa Radio Salzkammergut. Die machen ein viffes Programm. Und sie werden unterstützt von Industriellen, die nicht nur gewinnorientiert denken.
Sinnorientiert muss letztlich auch gewinnorientiert sein.
Alle Manager, die sich das freie Denken bewahrt haben, erkennen, dass der Plafond erreicht ist, dass es dann einen Ausweg geben muss. An diesem Punkt wird der Konsument entscheiden. Der hat irgendwann einmal alles und will nun Dinge, die er ungeheuer schön findet. Er will innere Werte.
Sie schreiben in Ihrem Buch: die Menschen rennen Paradiesen hinterher, doch es ist kein Elysium in Sicht, nur krumm gewachsene Bäume der Erkenntnis. Und auch da hocken noch Schlangen darauf.
All die falschen Heilsversprechungen! Wenn ich dieses Waschmittel verwende, wasche ich mich bis zur Seele hin klinisch sauber.
Rennen an sich ist vielleicht schon die falsche Bewegungsform, um in einem Paradies anzukommen.
Ich erinnere mich an meine Kinderzeit, die so unglaublich geräumig war. Alles hat Platz gehabt: die wildesten Abenteuer und die Schule. Heute plötzlich wird mir die Zeit zu eng. Sie läuft mir davon, weil ich hinterher laufe.
Wieviele Freunde haben Sie auf Facebook?
Gar keine. Freunde sind eine Lebensversicherung. Das heißt, dass man viel gibt und viel nimmt und von der Sorte kann man sich drei, vier leisten, aber dazu braucht es kein Facebook. Es mag für manche zur Selbstvermarktung gehören, für mich wäre es nur nutzlose Arbeit. Ein Ausweg aus der Isolation ist es sicher nicht. Ob ich nun eine lockere Beziehung habe oder eine nähere, sie sollte immer Qualität haben. Ich habe einmal einer Zwölfjährigen aus Italien ein Programm abgekauft. Die hat dann studiert und ist heute in Amerika. Wir werden uns wahrscheinlich nie sehen, aber wir schreiben uns immer noch.
Nun ist es aber doch ein Privileg, schöpferisch tätig sein zu können. Nicht alle können das. Viele Menschen müssen am Fließband stehen und sich das Sinnhafte woanders holen.
Diejenigen Berufe, wo der Mensch zum Helfer der Maschine degradiert ist, wird es bald nicht mehr geben. Man kann bei allen Berufen kreativ sein. Viele Konzerne erkennen ja das Potential und rufen auf, die eigene Tätigkeit zu hinterfragen und nicht einfach blind zu gehorchen. Innehalten kann so auch ein Karrierevorteil sein. Es braucht nur immer das Abwägen, wie weit man sich auf das dünne Eis wagt. Ich habe einmal meine Existenz grundsätzlich gefährdet durch einen entschlossenen Schnitt. Man muss schon immer die Folgen im Auge behalten und nicht einfach blindlings abspringen. Sehenden Auges in das Neue zu gehen ist aber sehr in Ordnung.
Der Mensch ist frei und Freiheit ist ja immer auch Verantwortung.
Und die habe ich auch, wenn ich Hotelportier bin. Da gab es in den 70er Jahren übrigens einen tollen Lyriker, den Rudolf Weilhartner der hat festgestellt, er wird von seiner Lyrik nicht wirklich leben können. Er braucht einen Beruf, aber einen, der ihn nicht vereinnahmt. Da ist er in einem drittklassigen Hotel Nachtportier geworden. Das hat ihm die Miete bezahlt. Es ist vielleicht nicht jedermanns Sache, aber ich halte es für eine maßvolle Entscheidung, sich einen Brotberuf zu wählen, der einem keine Substanz kostet und wo man sich nicht verbiegen muss, um sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können.
Wir haben jetzt Weihnachten. Ist das immer noch Ihre Lieblingszeit?
Komischerweise ja. Ich verteidige das mit Zähnen und Klauen. Dazu gehört, dass ich die Wiener Innenstadt nicht betrete. Der Christkindlmarkt ist ein absoluter Albtraum. Meine Weihnachtseinkäufe mache ich in Krems. Sonst fahre ich in meine Heimat, das Ausseerland. Dort ist Weihnachten schon noch besinnlicher. Dort wird Brauchtum nach wie vor nicht wegen des Fremdenverkehrs betrieben, obwohl der natürlich versucht, das zu vereinnahmen.
Eine Anmerkung zur Stille noch von Autor zu Autor. Mein Stille-Buch ist 2007 erschienen und kürzlich sagte mir meine Verlagsleiterin, das wäre nun schon Schnee von gestern und würde sich nicht mehr verkaufen lassen. Interessant, es ist ein Buch, es geht um Stille. Aber es rast dahin in die Vergänglichkeit.
Ja eigenartig, sogar Bücher drehen immer schneller. Es gibt ältere Bücher von mir, die wären lieferbar, aber ohne Nachzuschauen sagen die Verkäufer: das gibt’s schon lange nicht mehr! Ein Buch über die Stille wäre ja ein Dauerläufer.
Werden die Menschen das Innehalten hinbekommen?
Sie werden müssen. Es gibt immer weniger Arbeit für immer mehr Menschen. Es wird zu Produktivität, Geld und Eigentum einen neuen Zugang geben. Es steht uns eine gesellschaftliche Umschichtung ins Haus, da ist das 19. Jahrhundert nichts dagegen. Es wird grammeln und krachen und nachher wird es vernünftiger ausschauen. Man kann ja auch nicht das Ende der Sklaverei bedauern, weil es nachher soviele arbeitslose Schwarze gegeben hat.
Alfred Komarek,
Anstiftung zum Innehalten
Styria, Wien/Graz/Klagenfurt 2010
Harald Koisser,
Die Rückeroberung der Stille,
Orac, Wien 2007