Die Parabel vom Schachspieler in Hermann Hesses Steppenwolf

Text von Harald Koisser

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„Als Körper ist jeder Mensch eins, als Seele nie.“ Dies ist kurzgefasst die Lehre welche der Steppenwolf erfahren muss. Er wähnt sich zerrissen und aufgerieben zwischen seinen zwei Seiten, den zwei Seelen, die ach, in seiner Brust wohnen. Doch er „vergisst den Mephisto und eine ganze Menge andrer Seelen, die er ebenfalls in seiner Brust hat“, wie Hesse anmerkt.

Er glaubt, wie Faust, dass zwei Seelen für eine einzige Brust schon zuviel seien und die Brust zerreißen müssten. Sie sind aber im Gegenteil viel zu wenig, und Harry [Anm.: Hauptdarsteller des Buches] vergewaltigt seine arme Seele furchtbar, wenn er sie in einem so primitiven Bilde zu begreifen sucht. Harry verfährt, obwohl er ein hochgebildeter Mensch ist, etwa wie ein Wilder, der nicht über zwei hinaus zählen kann. Er nennt ein Stück von sich Mensch, ein andres Wolf, und damit glaubt er schon am Ende zu sein und sich erschöpft zu haben.

Der Steppenwolf zerstört unser banales binäres Gedankengut des Entweder-Oder. Wir sind vielmehr sowohl-als auch. Harry tritt im Magischen Theater durch eine Tür, welche die vielversprechende Aufschrift trägt Anleitung zum Aufbau der Persönlickeit. Erfolg garantiert. Wer möchte da nicht hineingehen?! Er trifft auf einen Schachspieler, der in das Brett versunken ist und zu ihm spricht:

Die fehlerhafte und Unglück bringende Auffassung, als sei ein Mensch eine dauernde Einheit, ist Ihnen bekannt. Es ist Ihnen auch bekannt, dass der Mensch aus einer Menge Seelen, aus sehr vielen Ichs besteht.

Aus dieser Erkennntis heraus entwickelt der Schachspieler eine These, die er Aufbaukunst nennt. Jeder kann sein Leben aus seinen Situationen und Wissensbestandteilen her wieder und wieder aufbauen. Der Schachpieler nimmt Figuren und Situationen aus Harrys Leben, ordnet sie am Schachbrett an – und wischt sie lächelnd weg. Nur um sie komplett anders wieder aufzubauen.

Wir zeigen demjenigen, der das Auseinanderfallen seines Ichs erlebt hat, dass er die Stücke jederzeit in beliebiger Ordnung neu zusammenstellen und dass er damit eine unendliche Mannigfaltigkeit des Lebensspiels erzielen kann. Wie der Dichter aus einer Handvoll Figuren ein Drama schafft, so bauen wir aus den Figuren unseres zerlegten Ichs immerzu neue Gruppen, mit neuen Spielen und Spannungen, mit ewig neuen Situationen.

Dies ist die Chance von Menschen und Wirtschaftseinheiten: den Zerfall in viele kleine Stücke nicht als Auseinanderfallen, sondern Ausbreiten von Möglichkeiten zu verstehen und alles wieder anders und neu zusammenzufügen. Die eine Ordnung, die wir als gut und bewährt erleben, ist nicht festgeschrieben und alleine gültig. Es gibt immer auch eine andere, nein: nicht bloß eine andere, so banal ist das Leben nicht, sondern viele andere. Und jede hat ihre Berechtigung.

Vielleicht ist „Aufbaukunst“ jene zentrale Fertigkeit, die heute vom Management gefordert wird, – die Fähigkeit, Komplexität zu managen, Vielfalt und Fülle neu zu ordnen und vorhandene Potentiale neu zu strukturieren, sich selbst und das Unternehmen permanent neu zu erfinden.

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