Zeit nicht verloren: gewonnen
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Harald Koisser über Erhart Kästners gewundene, poetische Beschreibung seiner Reisen zum Berg Athos.
Die Rubrik heißt „Für Sie gelesen“, doch in diesem Fall ist es Trug. Viele Bücher kann man stellvertretend lesen lassen, bei manchen ist es sogar eine Wohltat, doch bei diesem nicht. Es ist als hätten Sie Lust auf Frucht und Süße und ließen von jemandem stellvertretend eine reife Papaya essen. Ich möchte hier Lust machen, es selbst zu lesen, sich auf diese leserische Reise einzulassen und dergestallt inne zu werden.
Erhart Kästner hat 1956 Impressionen von mehreren Besuchen in Klöstern am Athos verfasst, die sich in alter Sprache hochschrauben wie die Wege zum Athos selbst. Manchmal versteigt sich die Sprache, wird zu hoch und süß, etwa wenn es heißt „… es könne mancherlei Glück und manches Zuhause auf dieser Welt nicht sein, wenn Welt nicht diese glitzernden Drusen von Eremiteien einschlösse.“ Doch oft trifft sie ruhig eine Wahrheit, dann etwa wenn der Autor beim Anstieg auf den Berg innehält, den Tag bedenkt und anmerkt: „Die Abwesenheit von allem Beschreibbaren, das war das Ereignis des Tages“. Ja, wir kennen die ereignislose Abwesenheit von Irgendetwas in Form von Stumpfheit und Langeweile, aber wer kann heute noch von einem ereignisreichen Nichts berichten, einem Zustand der Ereignislosigkeit, in dem eine Menge passiert ist? Vielleicht fehlt es dem modernen Menschen an Zeiten, wo Nichts ist.
Auf solche Gedanken kann man beim Lesen kommen und ich möchte das Buch gar nicht nacherzählen. Es passiert nichts, was man nacherzählen möchte. Der Autor reist, er pilgert, er ist bei Eremiten, er lässt sich alte Schriften vorlegen und spricht mit
weisen Männern und lernt auch solche kennen, die ihre schäbigen Hütten verbrennen, in dem Moment wo sich ein Gefühl von Heimat einstellt. Dann müssen sie weiter und sich eine neue bauen.
Entscheidend an dem Buch ist die schöne Form, in der selbst das scheinbar Unbedeutende vorgetragen wird, es wird oft schon Dichtung und „wirklich sind nur die bedichteten Dinge“, wie Kästner schreibt. Es ist ein Buch des Innehaltens, das einen beschenkt, wenn man sich darauf einlässt. So wird es zu einer Anregung, Einsamkeit und Stille im Leben zuzulassen.
„Einsamkeit, da sah er hohe Himmel voraus, Heiterkeiten, Erfüllung, Stille, Versunkenheiten und Klärung. Nicht Leere, nicht Missmut, nicht Hunger nach diesem und jenem, keine Dämonen des Zweifels. Keine entgangene Welt. Zeit nicht verloren: gewonnen.“
Erhart Kästner
Stundentrommel vom
heiligen Berg Athos
Insel Verlag, Frankfurt/Main, 1956