Zwei Jahre zu Fuß

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Ein Wanderleben ist vielleicht kein massentauglicher Lebensstil. Doch eine Zeit auf Wanderschaft kann Wunder wirken, weil sie einen näher an die eigenen
existenziellen Grenzen bringt. Reinhold Richtsfeld über seine zweijährige Wanderung zu sich selbst

Zuerst sehe ich es nur als Strich, doch es kommt immer näher. Kurz vor Cee erscheint es plötzlich in voller Pracht: das Meer! Ergriffen setze ich mich an eine Steinmauer und genieße das Panorama auf die Bucht in der Ferne. Dann packt mich eine reißende Welle der Euphorie und trägt mich vorwärts auf den letzten Kilometern des Jakobswegs bis zum Kap Finisterre, dem Ende der alten Welt. Mein Herz jubelt vor Freude und Begeisterung und ein Wasserfall an Energie und Inspiration strömt auf mich ein. Dieses Hochgefühl sprengt meine bisherige Glücksskala. Alles ist perfekt und stimmig, ich bin im absoluten Einklang mit der Welt. Zum Abschluss des Weges verbrennen wir nach alter Pilgertradition zeremoniell einige Dinge, nehmen ein Bad im Meer und genießen den Sonnenuntergang am Strand. Es ist wie in einem Traum.

Wege zum Glück

Oft bin ich während meiner zweijährigen Wanderschaft gefragt worden, warum ich zu Fuß gehe. Schon ein einziger Moment wie jener Tag am Meer würde alle Mühe wettmachen, doch es gibt noch viele andere Gründe: Weil ich gerne auf Reisen bin, ich die Grenzen eines einfachen und ökologischen Lebens ausloten möchte. Weil mich das Abenteuer reizt, mich meine innere Stimme dazu gerufen hat. Weil ich über die Welt und ihre Menschen lernen möchte. Alles gute Gründe, doch der einfachste ist: Weil es mich glücklich macht. Ist das nicht Grund genug? Als ich das einmal in einem Zeitungsinterview erwähnte, schrieb mir jemand: „Macht denn ein Leben nur für sich ohne Verantwortung für Andere wirklich glücklich?“ Mir ist klar, dass das Wanderleben kein massentauglicher Lebensstil ist. Dauerhaft unterwegs zu sein reicht auch mir nicht als Lebenssinn. Wer hat nicht den Wunsch, dem Leben etwas Sinn abzugewinnen und sich positiv in die Gemeinschaft einzubringen? Und doch kann eine Zeit auf Wanderschaft Wunder wirken, weil sie einen näher an die eigenen existenziellen Grenzen bringt.

Wissen wer wir sind

Das Pilgern und Initiationsreisen gibt es in vielen Kulturen der Welt. Ihr Zweck ist es, Menschen dabei zu unterstützen, unweigerliche Veränderungsprozesse im Leben zu bewältigen. Während des Rituals wird das sterbende Alte symbolisch losgelassen und Raum für das keimende Neue geschaffen. Die Reisenden stoßen an die Grenzen ihrer bisherigen Erfahrungswelt, überwinden alle Hürden und Gefahren, indem sie lernen, auf ihr Herz und ihre innere Stimme zu hören, und kehren schließlich geläutert in die Heimat zurück. Sie sind sich selbst oder Gott nähergekommen und wissen nun wieder wer sie sind. Auf Wanderschaft habe ich all das und viel mehr erlebt. Am eindrücklichsten in Marokko.

Inschallah

„Wohin gehst du?“, rufen mir ein paar von Kopf bis Fuß verhüllte Männer, die neben der Straße vor ihrem Jeep-Verleih sitzen, zu. Der Flair der südmarokkanischen Wüstenstadt M´hamid fesselt mich: staubige und schlecht asphaltierte Straßen, bevölkert von alten Taxis und Mopeds, von Eseln und Fuhrwerken, sowie buntem Wüstenvolk in verschiedensten traditionellen Gewändern. Es ist Nebensaison, die Kunden sind rar, und die Männer hoffen, dass ich mich zu einer Offroad-Tour in die Wüste hinreißen lasse. Aber ich winke ab, spüre die Abenteuerlust in mir aufflammen und rufe vor Übermut lachend: „Ich gehe nach Tanger!“

Zum unnachahmlichen Gefühl des Aufbruchs mischt sich die Angst vor dem Unbekannten. Am Stadtrand halte ich inne, lasse den heißen Sand durch meine Finger rieseln und spreche ein lautes Gebet. Es sind Worte der Demut, die aus tiefstem Herzen kommen. Mehr als 1000 Kilometer liegen vor mir, ein neuer Kontinent, ein neues Land, eine neue Kultur. Geht das überhaupt, Marokko zu Fuß? Viele offene Fragen, doch ich weiß, dass ich es nur schaffen kann, wenn ich mich dem Leben anvertraue. „Inschallah“, heißt es hier: „so Gott will.“

Das Netz des Lebens

Die Wanderung durch Marokko wird eine tiefgreifende Lektion in Demut und Dankbarkeit. Die ausgedehnte Stille der Wüste und der anmutige Zauber des Atlasgebirges zeigen mir wie klein und abhängig ich als Mensch bin. Ich erkenne, dass ich es nicht in der Hand habe, ob ich ans Ziel komme oder nicht. Ich bin angewiesen auf das Wasser der Berge, auf die Menschen, die mir wohlwollend den Weg zeigen oder Lebensmittel verkaufen. All das ist nicht selbstverständlich, was mir Tag für Tag klarer wird. Erst recht nicht das wunderbare Geschenk der Gastfreundschaft, das mir bei unzähligen Einladungen zuteil wird. Das Einzige was ich selbst zum Gelingen meiner Reise beitragen kann, ist einfach der zu sein, der ich bin und offenen Herzens durch den Tag zu gehen. „Demut bedeutet nicht, dass man verkennt, was man ist, sondern erkennt und anerkennt, was man alles nicht ist“, schreibt der französische Philosoph André Comte-Sponville. Ich weiß jetzt, dass ich nur ein winziger Teil des großen Netz des Lebens bin, und dennoch so unentbehrlich wie alle anderen Teile.

Es ist alles da

Auf meiner Wanderschaft hab ich gelernt, dass das Leben dort am lebendigsten wird, wo es offen, ambivalent, und der Ausgang völlig ungewiss ist. Genau dann wird es richtig interessant. Im Probieren steckt zwar Unsicherheit, aber sie ist von entscheidender Bedeutung, denn die Kreativität des Lebens kommt erst dann zur Blüte. „You miss 100% of the shots you never take“, sagte der kanadische Eishockey-Spieler Wayne Gretzky treffend. Was es braucht, ist der Mut, Gewohnheiten zu durchbrechen und Veränderungen zuzulassen. Viele Menschen spüren, dass ihre Lebensweise nicht mehr mit ihren inneren Werten übereinstimmt. Doch woran sollen wir uns in dieser Zeit des Wandels orientieren? Ich bin überzeugt, dass es nützt, wenn wir wieder mehr auf unsere innere Stimme und unser Bauchgefühl hören, und auf die Weisheit unserer eigenen Erfahrungen vertrauen. Es gibt so viele Wahrheiten wie es Menschen gibt. Die wirklichen Erkenntnisse und Einsichten des Lebens lassen sich nicht aus Büchern gewinnen. Worte helfen, etwas zu verstehen, aber nur die erlebte Erfahrung lässt uns wissen. Das Potential ist in jedem Menschen angelegt, also schaffen wir uns doch konsequenter die Räume, um es zur Entfaltung zu bringen! Wenn wir dem Ruf des Herzens folgen, können wir nur auf dem richtigen Weg sein, um zu dem zu werden, was wir sind.

Mit großer Dankbarkeit trage ich den kostbaren Schatz der Erfahrungen von der Wanderschaft in mir. Ich kann noch immer spüren, wie die Sonne und das Salz auf meiner Haut brennen, wie der kalte Regen über mein Gesicht rinnt. Ich höre das nächtliche Flüstern des Windes, wie er sanft durch die Wipfel des Nadelwaldes streift, höre, wie die mächtigen Wellen an der felsigen Klippe empor wandern. Ich schmecke die erlösende Frische des kalten Schlucks Wassers, der die Heiserkeit des quälenden Durstes vertreibt. Ich sehe den glanzvollen Lichtstrahl, wie er in der ersten Stunde des Morgens die Welt zum Leben erweckt. Das sind Momente der Ekstase! Und ich spüre die wohlige Wärme einer Umarmung, wie sie alle Schwierigkeiten vergessen macht.

Alle wichtigen Dinge sind da. Ich höre einfach auf die Stimme des Herzens. Und dann weiß ich, wer ich bin.

Reinhold Richtsfeld, Mag. Dipl. Ing., Jahrgang 1977, studierte Elektrotechnik und Soziologie und ist seit 2008 Weltenwanderer, Autor und Vortragsreisender. War 7000km zu Fuß unterwegs auf der Suche nach zukunftsfähigen Lebensstilen. Im aktuellen Bildervortrag „Das Herz des Abenteuers“ berichtet der Wanderer von seiner intensiven Reise, die ihn durch Westeuropa, auf die Kanarischen Inseln bis nach Marokko und retour führte. Ein Vortrag voller Lebensfreude über Freiheit, Glück und Menschen mit Mut machenden Ideen und Lebensweisen.

Das Herz des Abenteuers –
7000km zu Fuß
Aktuelle Termine NÖ und Wien

Di, 17.4.2012, 19.30 Uhr, Weitra, Stadtsaal
Mi, 18.4.2012, 19.30 Uhr, Allhartsberg, Allhartsberger Hof
Di, 24.4.2012, 19.00 Uhr, Eisenstadt, Volksbildungswerk
Mi, 25.4.2012, 19.30 Uhr, Wien, TU Wien – Freihaus Hörsaal 1, Großes Finale der Frühjahrstournee

Weitere Infos und Termine auf www.rytz.at

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