Zwei Geschichten vom Loslassen

Der Artikel ist auch als druckfreundliches PDF erhältlich

Eine wahre und eine auch irgendwie wahre Geschichte vom Festhalten und der Hingabe an das Loslassen. Aufgeschrieben von Harald Koisser

„Ja“

In einem Krankenzimmer lag eine alte Dame im Sterben. Ihr Gesicht war eingefallen, die Lebenesenergie weitgehend entwichen. Der letzte große Übergang war zu erwarten. Die anderen fünf Damen, ungefähr gleich alt, tuschelten über den zu erwartenden Zeitpunkt des Todes.

Eines Abends begann die Moribunde zu sprechen. Leise stieß sie ein Wort aus, dann dasselbe noch einmal. Anfangs war es kaum hörbar, dann drang es in den Raum. „Nein“, hauchte sie, „nein“.

Nein, nein, nein.

Aber und abermal sagte sie es. Sie hatte am Abend damit zaghaft begonnen, hatte sich nun darauf versteift und stieß ein ums andere Mal „Nein“ aus ihrem eingefallenen Mund hervor, die Augen wohl bereits für immer geschlossen.

Nein, nein, nein.

Die letzte Lebensernergie ging in diesem kleinen Wort auf. Die ganze Nacht lang. Bis in den Morgen hinein war das Zimmer erfüllt von diesem Nein. Dann verging der Tag. Und es kam ein neuer Abend. Und es hallte ein „Nein, nein, nein“ durch das Zimmer. Die anfängliche Erschütterung der anderen Patientinnen war zuerst Gleichgültigkeit gewichen und hatte sich dann in Ärger verwandelt. Die Krankenbetreuer und ÄrztInnen waren ratlos. „Es wird vergehen“, schien ihr Schulterzucken zu bedeuten. Was konnte man da schon tun?

Sehr zeitig am nächsten Morgen erhob sich die Bettnachbarin der Moribunden und ging leise zum Bett, aus dem das „Nein, nein, nein“ drang. Sie beugte zärtlich ihren Mund an das Ohr der Schlafenden und sagte: „Ja“

Und nocheinmal Ja. Ja, ja, ja.

Das wiederholte sie zu Mittag und am Abend. Die anderen ließen es interessiert geschehen und kommentierten es nicht. In der dritten Nacht kam der Wandel. Plötzlich stieß die Kranke hervor: „Nein, nein, ja, nein, nein, ja.“

Am Morgen lautete es schon „Ja, ja, nein, ja.“ und am Abend dann kam die Erlösung. Mit starkem Hauchen, fast in Euphorie, stieß die Frau nur noch „ja, ja, ja!“ hervor. Gegen Mitternacht war sie erlöst und nach einem letzten „Ja“ war es dann friedlich.

Diese Geschichte ereignete sich tatsächlich vor einiger Zeit in einem Wiener Spital. Eine Therapeutin, die dort arbeitet, hat mir davon erzählt.

„If you die, the most important ist to die intentionally“, sagte ein Zen-Meister zu der schwerkranken Schriftstellerin Christiane Singer. „Den letzten Augenblick nicht passiv über sich ergehen lassen, sondern aktiv wählen“ (Singer). „Der letzte Augenblick“ ist natürlich etwas Ultimatives, doch gilt das nicht für wahrlich jeden Augenblick – ihn tunlichst aktiv zu wählen?!

Als Lektüre des Loslassens empfehle ich Singers Chronologie des eigenen Sterbens: Christiane Singer, Alles ist Leben, btb-Verlag, München 2011.

 

Der Millionenfisch

Groß war Fred mit seinen 2 cm ja nicht und wirklich zufrieden auch nicht. Zum einen war Fred ein Weibchen und hätte sich einen anderen Namen gewunschen, zum anderen führte er ein recht einsames Leben. Kiesgrund, zwei Grünpflanzen und ein Oberflächenabsauger. An der Wand klebte eine Schnecke, aber die war nicht sehr gesprächig, weil sie mit dem Mund dauernd am Glas klebte. „Ist mein Job“, nuschelte sie und saugte weiter den Dreck vom Glas.

„Schon bei der Gattungsbezeichnung haben sie einen Fehler gemacht“, knurrte er, „wir sind waschechte Poecilia reticulata. Aber nein, wir wurden fälschlich von Robert Guppy Girardinus guppyi getauft. Jetzt bin ich ein weiblicher Guppy und heiße Fred. Da stimmt ja gar nichts.“ Und er träumte wieder davon, Poecilia zu heißen. Aus diesen Gedanken riss ihn der grüne Kescher, der vor ihm in das Wasser tauchte. Wie jedesmal erschrak er und er strampelte als er hochgezogen wurde. Mit einem Plumps landete er in einem mit Wasser gefüllten, durchsichtigen Plastiksack. So hatte man ihn einst – ach, lange ist’s her, sicher vier Wochen – hierher gebracht, so war es jedesmal, wenn sein Zuhause gesäubert wurde.

Aber hoppla, diesmal lief es anders. Fred saß in seinem kleinen Säckchen auf der Kommode und sah mit Erstaunen, wie zwei Hände unsanft die Wasserpflanzen entfernten, den Absauger demontierten, langsam das Wasser ausschütteten. He, nicht so viel. Doch, es wurde alles ausgeleert. Mehr noch, der Kies kam in den Mistkübel. Auch Alf, die Schnecke, wurde entfernt.

Da wurde Fred klar, dass er verloren war.

Das Aquarium, in dem er bislang seine kleinen Kreise gezogen hatte, wurde entfernt. Alles, was er hatte! Da war das Leben ohnehin so ungerecht und so einsam und dann das! Nein, hier wurde nicht geputzt, das war Demontage. Sabotage. Sein Lebensraum wurde vernichtet. Weg. Es war einfach weg. Dort wo er gelebt hatte, war nichts mehr. Ein leerer Raum. Kein Aquarium, kein Wasser. Man hatte ihm alles genommen, was er hatte.

Wäre er wenigstens ein Goldfisch. Die hatten ein Gedächtnis, das gerade einmal 30 Sekunden zurück reichte. So blöde zu sein ist eine Gnade in dieser Welt. Da bekommt man wenigstens nichts mit.

Nun hatten sie ihm alles genommen, „sie“ – die großen mächtigen Wesen da draußen ohne Flossen mit den zwei Fangarmen. Sie hatten ihn zerstört, und das kurz vor seiner Geschlechtsreife. Gleich würden sie kommen und das endgültige Urteil über sein Leben sprechen. Ach, hätten sie ihn nicht in dem Zwergenaquarium lassen können? Alf war nicht gesprächig gewesen, aber immerhin jemand, der da war. Die zwei erbärmlichen Wasserpflanzen hatte er binnen Sekunden umrundet, aber immerhin etwas Grünes!

Und da kam es! Fred konnte nicht hinsehen. Er heulte und wimmerte und wollte, dass es bald vorbei war mit ihm.

Er öffnete die Augen erst wieder als er mit großem Platsch in ein größeres Nass kullerte. Da stand die Zeit still. Was war denn das? Unendliche Weiten! Büschel und Wälder von Gras. Ein versunkenes Schiff. Platsch, Platsch, Platsch. Na sowas, Guppys! Oh, pardon, Poecilia reticulata. Ein Männchen raste aufgeregt durch das riesige neue Aquarium und stoppte vor Fred.

„Wie heißt du denn?“
„Poecilia“, sagte Fred und seine Afterflosse wurde leicht rot.

Er blickte hinaus und sah das große Gesicht eines dieser großen Wesen ohne Flosse. Es lugte freundlich durch das Glas, das sie trennte. Und da geschah es, dass sich sogar die Geschichte, in der sich Fred befand, endlich darauf besann, dass „er“ eigentlich eine „sie“ war.

Poecilia taumelte vor Glück. So schön hatte sie sich das Leben nicht erträumt. So viel Platz. So viele Lebewesen. Und man muss auch sagen: so interessante Guppy-Männchen! Und Poecilia, die einst Fred hieß, wuchs und sie wurde 6 cm lang. Der neue größere Lebensraum hatte ihr Raum für Entwicklung gegeben und sie wachsen lassen. Und bald sollte sich auch zeigen, warum man die Guppys auch „Millionenfische“ nannte. Immerhin war sie nun geschlechtsreif.

Dies war ihre große Wandlung gewesen: der Wechsel vom kleinen in das wunderbar große Aquarium, der Wandel vom Kleinfisch zum geschlechtsreifem Guppy, der Wandel von Einsamkeit zur Gemeinschaft. Oft noch sann sie darüber nach, warum Wandel so weh tun musste. Warum er sie so geängstigt hatte. Warum sie die Vernichtung ihres bisherigen Lebensraums, den sie ohnehin stets für zu klein und eng empfunden hatte, als so dramatisch und ausschließlich negativ empfunden hatte. Vielleicht wussten ja die großen, bleichen Wesen ohne Flossen da draußen mehr darüber. Sie war ja nur eine Guppy, eine Glückliche.

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