Zeit für Wildnis

Der Artikel ist auch als druckfreundliches PDF erhältlich

„Wir haben es mit einem Wirtschaftssystem zu tun, das historisch ohne einem Verständnis ökologischer und menschlicher Wahrheit gemacht wurde.“ Wanderer Reinhold Richtsfeld hat Helena Norberg-Hodge, Aktivistin für regionales Wirtschaften, interviewt

Helena, du engagierst dich für eine Relokalisierung der globalen Wirtschaft.

Zuerst müssen wir verstehen, dass unsere Wirtschaftspolitik im Moment so gestaltet ist, dass sie Städte wie z.B. London größer macht. Warum können wir nicht einen Wirtschaftsrahmen gestalten, der London kleiner macht? London verkleinern hieße, auch den ökologischen Fußabdruck zu vermindern. Wir könnten uns also darüber verständigen, dass wir nicht wollen, dass London noch weiter wächst. Ich denke, zumindest das würden die Menschen verstehen. Wir könnten sofort eine Politik umsetzen, die es Menschen einfacher machen würde, in kleineren Städten zu bleiben, wo dann auch kleinere Firmen überleben können. Das würde sofort Druck von London nehmen.

Wie können wir es schaffen, dass Ökologie und das „menschliche Maß” die Grundlage für alle Politikbereiche werden? Brauchen wir neue Institutionen und Werkzeuge für Kommunikation, Dialog oder Konfliktlösung?

Bei vielen Initiativen, die eine lokalere Wirtschaft umsetzen, habe ich selbst erlebt, dass dies nicht wegen neuer Institutionen gelingt, sondern durch das Bewusstsein über das Wiederverbinden von Menschen. Wir brauchen mehr Platz und Respekt für das Kleine, d.h. für kleine Unternehmen, für kleine Landwirtschaftsbetriebe oder kleine Non-Profit-Organisationen. Außerdem mehr Kompetenzen für lokale Verwaltung und Politik. Was ich sehe ist, wenn du die Struktur änderst, bekommst du auch eine andere Form der Kommunikation. Viele Bauern stehen unter dem Druck der Handelsketten, in riesigen Mono-kulturen standardisierte Produkte in standardisierter Größe zu produzieren. Immer und immer wieder wurde ihnen erzählt, dass Chemikalien gut und unerlässlich dafür sind. Wenn diese Bauern dann auf lokale Bauernmärkte gehen, fühlen sie sich wie in einer neuen Galaxie. Sie beginnen, eine größere Vielfalt von Produkten zu kultivieren und spüren die Wertschätzung der Kunden bezüglich guter und frischer Lebensmittel, auch wenn diese nicht Standardgröße haben. Durch den direkten Kontakt merken sie auch, dass die Konsumenten keine Chemie wollen. Vorurteile und Ärger verschwinden sowohl bei den Bauern als auch bei den Konsumenten. Du hast beides: Kommunikation und einen Strukturwandel. Darum denke ich, dass eine Veränderung der Strukturen wichtiger für das Zusammenkommen ist als neue Institutionen. Die Leute verstehen oft nicht, dass „Skaleneffekte“ ein Mythos sind. Sie glauben den Regierungen, wenn sie sagen: dass wir „Big-Scale“ und immer größere Landwirtschaftsbetriebe brauchen, um die Welt zu ernähren; dass wir die großen Supermärkte brauchen für unsere Versorgung mit immer billigeren Lebensmitteln. Aber sie sind in Wirklichkeit nicht billiger.

Warum?

Wenn Lebensmittel von der anderen Seite der Welt billiger sind als unsere, dann wegen der Tatsache, dass unsere Politik das subventioniert und große Unternehmen fördert. Am Weltmarkt suchen Trillionen von Dollars schnellen Profit und werden investiert und spekuliert. Eigentlich füttern wir mit öffentlichem Geld den Bonus von CEO´s. Die österreichische Regierung unterstützt japanische, arabische und amerikanische Investoren eher als die Menschen in Österreich. Obama´s Regierung tut das Gleiche in den USA. Sie schafft neue Milliardäre in China, während ein Großteil der Menschen Amerikas zunehmend verarmt. Die meisten wissen nichts darüber. Die globale Lebensmittelindustrie ist der bei weitem größte Umweltverschmutzer und der größte Verursacher von Arbeitslosigkeit. Unsere Steuern zahlen dafür, dass verarbeitete Lebensmittel von weit weg weniger kosten als frische bei uns. Es ist eine politische Entscheidung, ob frische biologische Lebensmittel weniger kosten oder verarbeitete tote Lebensmittel von der anderen Seite der Welt. Es ist auch eine politische Entscheidung, ob wir Arbeitslosigkeit haben oder nicht. Das ist die große Wahrheit, die hinaus muss. Wir müssen auf den Zusammenhang zwischen den Problemen und den fundamentalen Ursachen schauen.

Was sind diese Ursachen?

Im Moment sind unsere Regierungen süchtig nach einer Art von Wachstum, die nicht einmal der nationalen Wirtschaft hilft. Regierungen folgen einem Kurs, den sie zwar Wachstum nennen, der uns aber ärmer und ärmer macht. Wie das? Die Freiheiten der „Big Player“ werden vergrößert, zum großen Nachteil der kleineren lokalen Unternehmen. Transnationale Unternehmen und Banken üben Druck auf die nationalen Regierungen aus: wenn ihr nicht tut was wir wollen,  lassen wir euch zurück. Diese Politik ist verantwortlich für die massiven CO2 Emissionen und für die Ausrottung ganzer Arten. Die Ausrottung von Arten und von Arbeitsplätzen geht Hand in Hand und hat zu tun mit der großen Macht und Mobilität von transnationalen Finanz- und Handelsakteuren.

Wenn wir das verstanden haben, was können wir dagegen tun? Sind wir Opfer oder auch Mitverursacher dieser Entwicklung?

Opfer, ohne Frage! Wir sind Opfer unserer eigenen Ignoranz, und der Ignoranz gegenüber jenen, die diese Entwicklung vorantreiben. Wir haben es mit einem Wirtschaftssystem zu tun, das historisch ohne einem Verständnis ökologischer und menschlicher Wahrheit gemacht wurde. Es basiert auf abstrakten Ideen, die die Herrschenden den Menschen aufzwangen. In diesem Sinne, glaube ich, sind wir Opfer. Mein Standpunkt ist: Insbesondere in lokalen Gemeinschaften können wir lernen, wie wir leben wollen, unsere Freude und Ganzheit entwickeln und uns zu einer lebendigen Kultur entfalten, mit allem, was dazu gehört, Musik, Tanz und Bewegung. Dafür müssen wir nicht in die großen Städte abwandern und haufenweise Geld ausgeben. Wir können diese Dinge auch mit Freunden in unserem Umfeld leben. Aber: wir müssen auch aus unserer Ignoranz heraus, mit der wir de facto weitere negative Entwicklungen fördern.

Wie können wir zu einer lebendigen Kultur der Freude und Ganzheit gelangen?

Viele Menschen sehnen sich nach einer engeren Verbindung zur Natur. In so vielen Bereichen menschlicher Aktivität findet sich das Wort „Öko“ vorangestellt. Öko-Landwirtschaft, Öko-Bildung, Öko-Theologie, etc…, weil die Menschen eine gesunde Beziehung zur Natur wollen. Sich selbst als Teil dieser wundervoll lebendigen Erde zu fühlen, ist ein großes Geschenk. Und es ist etwas, woran sich viele relativ einfach wiederverbinden können, wenn sie dazu ermutigt werden. Warum? Weil wir Menschen so entstanden sind. Im Lauf der gesamten Evolution haben wir uns in Gruppen und in enger Verbindung mit der Natur entwickelt. Indem wir das in unserer modernen, urbanen Konsumkultur vergessen, schneiden wir uns selbst unser Herz heraus.

Beim Wandern spüre ich eine tiefe Verbindung zur Natur, das ist wie eine Therapie für mich. Bräuchten wir eigentlich alle eine Therapie?

Ich glaube nicht, dass wir eine Therapie brauchen. Aber wir sollten Menschen dazu anregen, sich einmal genau zu überlegen, welche die glücklichsten Momente in ihrem Leben sind. Jeder weiß, wie es sich anfühlt, glücklich oder traurig zu sein. Es kann sehr hilfreich sein, gemeinsam darüber nachzudenken, wann wir unsere größten Glücksmomente erlebt haben. Mir selbst wurde das klar, als ich noch recht jung war, etwa 18. Die schönsten Momente der Glückseligkeit erlebte ich immer draußen in der Natur. Alle wirkungsvollen Therapien helfen Menschen, sich wieder zu verbinden. Es gibt Projekte, wo straffällige Jugendliche hinausgehen in die Wildnis und lernen, gemeinsam Kontakt aufzunehmen zu anderen und zur Natur. Sie erwerben Grundfertigkeiten, die viele Menschen in der urbanen Konsumkultur nie gelernt haben, wie etwa Feuer machen oder Kochen.

Sollten wir alle Menschen in den Wald schicken, um sich wiederzuverbinden?

Ja, ich möchte jeden dazu ermuntern, Zeit in der Wildnis zu verbringen. Schau, dass du manchmal auch ganz alleine Zeit in der Natur verbringst, ohne zu reden. Dann trefft ihr euch am Lagerfeuer zum Austausch. Ein anderer Aspekt des Zusammenkommens ist gemeinsames Singen und Musizieren. Es geht nicht darum, perfekt zu sein. Perfekt sein zu wollen und müssen ist Teil unserer Kultur, niemand kann so perfekt sein wie es das Fernsehen vorgibt. Darum singen die Menschen nicht mehr in den modernen industrialisierten Kulturen. Wir hören Pavarotti, und bekommen das Gefühl, wir wären nicht gut genug. In Wirklichkeit hat jeder Mensch seine Stärken und Schwächen. Jemand ist schön, kann aber nicht singen. Wir sollten eine realistischere Vorstellung haben, wer wir sind und sein können, besonders als Kind. Es gibt unzählige Projekte, die Menschen ermöglichen einander zu begegnen. Alte Menschen, Gefängnisinsassen und kleine Kinder arbeiten zusammen in Gemeinschaftsgärten, pflanzen Gemüse und kochen vielleicht sogar das Geerntete miteinander. Das ist eine wunderbare Verbindung des Spirituellen, Ökologischen und Sozialen. Wenn jemand diese Verbundenheit zur Erde und zu den Pflanzen, die aus dem Samen sprießen und gedeihen, spürt, dann weckt das eine Fürsorge, eine Freude, die niemanden unberührt lässt. Es ist sehr ermutigend, wenn wir erkennen, dass es in Wirklichkeit keinen Widerspruch gibt zwischen unseren Bedürfnissen und denen der Natur.

Helena Norberg-Hodge, geb. 1946 in Schweden. Linguistin und Aktivistin für regionales Wirtschaften, Trägerin des Alternativen Nobelpreises. Ihr in über 40 Sprachen übersetztes Buch „Ancient Futures – Leben in Ladakh“ (Herder 1993) dokumentiert die folgenschweren Auswirkungen der Globalisierung auf die traditionelle Kultur in der nordindischen Provinz Ladakh, wo sie Jahrzehnte lebte. 2011 erschien ihr weltweit gezeigter Film „Die Ökonomie des Glücks“, der die Rückkehr zu einer lokalen ökologischen Wirtschaftsweise nach menschlichem Maß fordert.
www.localfutures.org

Reinhold Richtsfeld, geb. 1977, studierte Elektrotechnik und Soziologie und ist seit 2008 Weltenwanderer, Kinderbuch-Autor und Vortragsreisender. Er war 7000 km zu Fuß unterwegs auf der Suche nach zukunftsfähigen Lebensstilen. Im aktuellen Bildervortrag „Das Herz des Abenteuers“ berichtet der Wanderer von den Erfahrungen seiner Reise, die ihn durch Westeuropa, auf die Kanarischen Inseln bis nach Marokko und zurück nach Österreich führte.

Alle Infos und Termine der Vortragstournee 2013 unter www.rytz.at

Keine Kommentare möglich.