Politik mit Spaß macht Sinn

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Jòn Gnarr – vom Schauspieler zum originellsten Bürgermeister Europas. Seit 9 Monaten regiert er Reykjavik. Aufbruch in eine neue Ära der Politik?

Der bekannteste Schauspieler des Landes, Kabarettist und ehemalige Bassist einer Punk-Band hatte Sehnsucht nach einer neuen Politik. Anstatt in Resignation und Aggression zu verfallen, beschlossen Gnarr und seine Freund/innen mit und aus Spaß eine Partei zu gründen – die „Bestes Partei“. Sie legten einen beispiellos kreativen „Wahlkampf“ hin.

Als Bürgermeister wolle Gnarr sich engagieren für:
+ kontinuierliche Transparenz

+ freie Handtücher in allen Schwimmbädern

+ einen Polarbären im Zoo

+ für nur EINEN Weihnachtsmann

+ alle Arten von Unglück

+ ein drogenfreies Parlament bis 2020

Was anhand dieses Wahlprogramms nicht einmal er selbst zu denken wagte, ist eingetreten: Jón Gnarr ist seit neun Monaten Bürgermeistern von Reykjavik. Er wurde mit überwältigender Mehrheit gewählt.

Nach seinen eigenen Angaben ist er öfter vorbestraft als jeder durchschnittliche Verbrecher im Land, weil er sich monatelang mit verstecktem Mikro ins Parlament geschmuggelt und geheime Reden im Radio veröffentlicht hatte. Was macht es möglich, dass eine Künstler-Persönlichkeit, die keine Ahnung von Politik hat – wie er selber freimütig bekennt – das Vertrauen einer Stadt zugesprochen bekommt?

Islands Absturz …

Island ist die größte Vulkaninsel der Welt. Sie hat 320.000 Einwohner/innen, davon leben 120.000 Menschen in der Hauptstadt Reykjavik. Noch 2006 galt die Insel als Musterland für eine blühende Wirtschaft. Die größten isländischen Banken gehörten ausländischen Investoren. Diese Strategie wurde von der EU als Best Practice gelobt. 2008 kam über Nacht der Absturz: die Börse kollapierte, so vieles war auf Pump aufgebaut. Die Schulden waren 12 Mal größer als das BIP des Landes, die Inflation des Landeswährung stieg auf 18 %, die Arbeitslosigkeit auf 20 %, das BIP sank um bis zu 20 %. Es bildete sich ein Klima des Widerstandes gegen das traditionelle Parteienspektrum, das zugelassen hatte, dass Finanzbosse den Reichtum der Inselgesellschaft verwetteten. Diese Regierung verlor das Vertrauen der Bevölkerung. Dann kam 2010 noch die wochenlang alles lahmlegende Aschenwolke des aktiv gewordenen Vulkans dazu.

… Gnarrs Aufstieg
Jòn Gnarr reichte es – aus Langeweile, Protest, Sehnsucht und vor allem aus Spaß gründete er mit seinen KünstlerInnen die „Beste Partei“. Seine Partei wurde zugelassen, was vergleichsweise ähnlichen Gruppierungen in Deutschland nicht gelang. Er ging mit seinen Leuten ins Studio und nahm den Wahlsong zur Musik von „We are symply the best“ von Tina Turner auf. Damit ging er auf die Straßen, um die Leute zu ermutigen, wieder an sich und die Lebensfreude zu glauben. Er hielt Nonsens-Reden im Parlament und trat dafür eintrat, dass die Arbeit von Künstler/innen gleichwertig zu jeder anderen Arbeit wahrgenommen wird.  Sein Programm war, keines zu haben, sondern sich für alle Arten von „Unglücklich sein“ einzusetzen und ein Disneyland in Island zu errichten. Mit freiem Eintritt für alle. Wenig verwunderlich, dass er und seine Partei von den etablierten Parteien nicht ernst genommen wurden.

Bürgermeistergipfeltreffen in der Augartenstadt

Die BürgerInnen von Islands Hauptstadt glaubten an Gnarr und die Wiener „Augartenstadt“, fasziniert vom Gnarr-Effekt, hat den surrealen Bürgermeister nach Wien eingeladen. Die

„Augartenstadt“ ist selbst ein surreales Gebilde, bestehend aus eigenwilligen Ministerien und selbstverständlich einem Bürgermeister in Gestalt von Otto Lechner.  Sie wollten Gnarrs Kraft würdigen und von ihr lernen.„Art goes Government – Rettet Kunst Politik?“ lautete das Motto der dreitägigen Veranstaltung. Am ersten Abend stand der Film „Gnarr“ von Gaukur Ulfarsson am Programm, der den Weg des ersten surrealistischen Bürgermeister Europas zeigt. Mit 150 Personen war die Veranstaltung überbucht. Der schräg-lustvolle Dokumentarfilm soll im April, Mai 2011 in New York bei einem renommierten Filmfestival gezeigt werden. Am 2. Abend gab es eine Diskussion mit Wiener Künsterlinnen, wie Hubsi Kramer, Eva Brenner, Ilija Trojanow zum Thema „Rettet Kunst Politik?“. Am 3. Abend trat er mit dem fiktiven Bürgermeister der Augartenstadt, dem Akkordeon-Virtuosen Otto Lechner, zu einem „Bürgermeistergipfeltreffen“ zusammen. Den Bürgermeister der Stadt Wien, Michael Häupl, trifft er nicht. Wozu auch?

Er ist

Jòn Gnarr betritt den Saal. Er wirkt wie ein normaler Mensch, keine außergewöhnliche Ausstrahlung, kein alle vereinnehmendes Charisma. Lediglich seine Frisur ist skurril. Er geht auf die Bühne, begrüßt. Er wirkt leicht unsicher und gleichzeitig sieht man, dass ihm der Schalk im Nacken sitzt. Er ist da, mit allem, was er als Mensch ist.

Spaßfaktor im verantwortungsvollen Job

Fragen werden gestellt. Wie er es bewerkstellige, das Tagesgeschäft? Ob das nicht ein schwerer Job sei, viel schwerer als er sich vor 9 Monaten dachte?

„Ja“, meint er. “Es ist ein schwerer Job. Aber nicht schwerer als jeder andere Job, den man gut machen will.“

Ob er nicht ernüchtert sei und der Spaß von der Realität gekillt wurde? „Ja, es gibt Tage, da denke ich, ich steh jetzt auf und gehe. Und denn denke ich an meine Freund/innen, daran, dass ich Verantwortung übernommen hab und dazu stehe. Ich werde erst aufhören, wenn ich aufhöre, ICH SELBER zu sein. Wenn meine Familie und meine Freund/innen mir sagen, ich sei nicht mehr ICH, dann hör ich sofort auf. Spaß versuche ich soviel wie möglich einzumischen, manches gelingt. Dort wo es nicht gelingt, versuche ich es immer wieder.“

Wie lieben wir?
Was er denn alles verändern will und kann? Ob das denn in der Realität möglich sei?

Nein, ER alleine könne gar nichts verändern. Seine Aufgabe ist es mit allen zu reden, zu kooperieren, wertschätzend und achtsam umzugehen, auch wenn andere Parteien dies NICHT tun mit ihm. Seine Aufgabe ist es, Menschen Hoffnung zu geben, an das gute Leben zu glauben und sie zu ermutigen, bei sich selber anzufangen, wieder eine lebensfreudige Haltung zu erlangen. Er unterstützt Projekte, die dafür sorgen, dass die Menschen wieder Heimat finden, die ihre Häuser im Zuge der Finanzkrise und Fremdwährungsverschuldung verloren haben. Die Erhaltung und der Schutz der Natur, das wertvollste Gut der Insel, hat größte Priorität. Dazu braucht es keinen Hero, sondern einen Bürgermeister, der Chancen aufzeigt und, soweit es möglich ist, diese gibt. Er arbeite am „downgrading“ des Bürgermeisterstatus – denn, so Gnarrs Erkenntnis, der kann kaum etwas ohne seine Leute bewirken!

Und, das Wichtigste: „Das, was als erstes verändert werden kann und soll, bin ICH SELBER. Ist JEDER und JEDE von uns selber. Es gibt so eine Vielfalt der Zukunft. Die Fragen, die wirklich Bedeutung haben sind doch: Wie lieben wir? (oder heißt es: wie leben wir?) Wie gelingt uns allen ein beglückendes Leben? “

Wir brauchen keine Heros
Eine Teilnehmerin fasst seine Haltung, seine Aussagen und seine Wirkung zusammen: „Wenn ich Ihnen und Ihrem Weg so zuhöre krieg ich den Eindruck, dass JEDE Person Politiker/in werden kann!“ Er bestätigt mit großer Empathie – eine seiner ausführlichsten Antworten an diesem Abend.

Ich weiß es nicht und Nonsens-Homepage

Kürzlich sollte er ein News-Interview geben. Der Journalist stellte ihm die erste Frage und Jòn Gnarr sagte ehrlich darauf: „Ich weiß es nicht“. „Ich hatte einfach keine Ahnung, soll er mich doch in einer Woche wieder fragen, dann hab ich mich informiert!“

Der Journalist war derart platt, dass es zu keinen weiteren Fragen mehr kam.

Als Bürgermeister hat er eine offizielle Homepage – und zusätzlich hat er eine Nonsens-Homepage eingerichtet. Das schreibt er jeden Tag, was ihm so Witziges in den Sinn kommt. Seine Nonsenshomepage verzeichnet deutlich mehr Zugriffe als die offizielle Seite. (

http://www.facebook.com/diary.of.a.mayor)

Wie er mit den Unternehmer/innen, Bankern etc. klar kommt?
„I entertain companies“.
Er setzt seine Macht ein, wo es möglich ist. Gelassen, entwaffnend, radikal, verspielt.

Eine seiner Lieblingsinitiativen, seitdem er Bürgermeister ist der „Good day day“. In einem Fernsehspot, wo er Grimassen schneidend zu sehen ist, ruft er dazu auf, sich „guten Tag“ zu wünschen zur Würdigung des „guten Tag Tags“. Und ob es denn nicht auch möglich wäre, den „Guten Tag Tag“ öfter als 1 x im  Jahr zu zelebrieren – vielleicht sogar täglich?

Spaß ist nicht alles

Ob er denn glaubt, dass alle Herausforderungen dieser Welt mit Spaß, Humor und positiver Haltung gelöst werden können?

Er antwortet mit einem klaren „Nein. Manchmal ist ein Nein das einzig Richtige, auch wenn die Person nicht versteht, warum. Ich bin Vater von fünf Kindern und dabei hab ich gelernt, dass manchmal das eindeutige NEIN die beste Antwort ist.“

Hubsi Kramer als Wiener Bürgermeister?
Hubert Kramer, der bedeutende Wiener Aktionstheatermacher wird gefragt, ob er nicht – nach dem Vorbild Jòn Gnarr – als Bürgermeister von Wien kandidieren möchte?
„Würde ich das tun, würden die Medien sofort danach Ausschau halten, ob sie nicht ein  Finanzamts – oder Sozialversicherungsdelikt in meiner Vergangenheit finden und mich damit killen. Nein, die Zukunft wird von den Frauen und der Jugend gestaltet. Von Personen, die sich außerhalb des patriarchalen Denkens und Handels befinden, die frisch und frei sind. Von Person, die sie selber ist, in sich unabhängig von Rollen, Anpassungen, Gefallen wollen. (voriger Satz unklar) Ein Mensch, der seine eigene Autorität in sich gefunden hat, kann von niemandem gekillt werden.“

Wir brauchen Originale – auch in der Politik

„Wir haben alle so viele zurück gehaltene Ressourcen. Unterwerfen uns so vielen Beschränkungen, einzeln und im System. Das erzeugt Frustation, lähmt. Kunst und Spaß kann aufzeigen und ermutigen, unsere engen Grenzen aufzubrechen.“

Eva Brenner, Initiatorin und Leiterin des Experiment-Theaters „Fleischerei“ in Wien bringt es auf eine wunderschönen zentralen Punkt: „Es geht nicht darum, ob Künster/innen oder andere Menschen Politiker/innen werden – es geht darum, dass ORIGINALE – originelle Menschen – in der Politik sind!“

Eingelöste Nonsens-Wahlversprechen

Was sei denn nun aus dem „Wahlversprechen“ – freie Handtücher in den Schwimmbädern, geworden? „Ja, für 3 Monate gab es freie Handtücher. Jetzt nicht mehr.“ Durchdacht, wertschätzend und dazu kurz und knapp sind seine Antworten.

Und die Polarbären in Islands Zoo? Was ist aus diesem „Wahlversprechen“ geworden?

Jòn Gnarr:„Wir haben gar keinen Zoo in Island“.

Er inspiriert und ermutigt auf so einfache, ehrliche und natürliche Weise, dass es ungefiltert ins Herz geht. Es scheint als wäre es egal, ob er als Papst, Punkmusiker oder Politiker arbeitet – er bleibt sich selber radikal und gelassen treu. Authentizität, Demut, Witz. Kann er mit seinem „Neoanarchismus“ Hoffnungsträger für Europa werden? Ein Aufbruch in eine andere, liebens- und menschenwertere Zukunft und Politikgestaltung ist er mit seinem Team und Programm auf alle Fälle. Er erzeugt Aufbruchs- und Ermutigungsstimmung, die eigene einzigartige Originalität weiter zu entdecken, zu leben und sie in diese Welt einzuspielen.

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