„Man sollte Babys nichts beibringen“

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Physiotherapeutin Alexandra Kristl über Haltungsschäden und wie sie durch Ungeduld und Ehrgeiz der Eltern in frühester Kindheit erworben werden. Interview von Harald Koisser

 

Du hast als Physiotherapeutin viel mit Haltungsschäden zu tun. Wieso wachsen wir Menschen denn so schief heran?

Das beginnt ganz früh. Die Eltern wissen nicht, wie man mit einem Baby umgeht, dass es gesund aufwächst und Haltungs- und Koordinationsprobleme nicht vorprogrammiert werden.

Du meinst also, wir als Eltern führen Schädigungen an den Kleinkindern durch? Wie gelingt uns das?

Das gelingt, indem wir Entwicklungs-schritte vorwegnehmen. Ungeduld und Ehrgeiz liegen dem zugrunde. Die Idee, einem Kind etwas beibringen zu müssen, ist in sich schon falsch. Wir haben als Menschen in uns programmiert, dass wir einmal auf zwei Beinen laufen. Babys sind unglaubliche Lernmaschinen und Nachahmer. Wenn die sehen, dass alle aufrecht laufen, machen die das auch. Das Verhängnis beginnt, wenn wir ihnen das zeigen wollen.

Das ist die Vorbildfunktion der Eltern.

Das Baby muss seine Muskulatur erst entwickeln. Wir haben zwei verschiedene Arten von Muskeln: Haltemuskeln und Bewegermuskeln. Diese beiden Gruppen erfüllen entsprechend ihrer Namen ihre Aufgaben. Die Haltemuskeln halten uns gegen die Schwerkraft aufrecht. Sie sind vergleichsweise schwach, aber sehr ausdauernd und halten uns auch 24 Stunden am Tag, wenn es sein muss. Die Beweger sind dafür sehr kräftig, aber brauchen Pausen. Sie sind nicht für eine Dauerbelastung ausgelegt. Die beiden Muskelgruppen arbeiten wunderbar zusammen, solange jede das ihre tut. Probleme entstehen, wenn die Bewegermuskeln plötzlich glauben, sie müssen Haltearbeit machen.t

Das sind dann die berühmten Verspannungen.

Genau. Die Beweger verspannen, weil sie dauerhaft zum Aufrichten eingesetzt werden. Verspannung heißt: arbeiten, arbeiten, arbeiten. Die Muskeln verlernen, Pause zu machen. Die Konsequenz daraus ist, dass die Haltemuskeln gar nichts mehr machen und vom Gehirn nicht mehr angesteuert werden. Sie  verfetten im Laufe der Zeit und verlieren auch ihre Schutzfunktion. Da gibt es zum Beispiel kleine Muskeln direkt an der Wirbelsäule, die die einzelnen Wirbel stützen. Wenn die nicht arbeiten, kommt es zu Scherkräften zwischen den Wirbeln, die Knorpeln und alle passiven Strukturen werden angegriffen.

Wie kommt es zu dieser falschen Arbeits-aufteilung der Muskelgruppen?

Babys haben noch keine voll entwickelten Haltemuskeln. Die erarbeiten sich das langsam in Auseinandersetzung mit der Schwerkraft. Da muss man einfach Vertrauen haben in das Baby. Es macht die einzelnen Entwicklungsschritte wenn es Zeit dafür ist. Das Kind weiß, wann es soweit ist. Wir können das als Erwachsene unmöglich wissen.

Das heißt, es gibt in der Entwicklung keine Abkürzung.

Doch, aber der Preis ist sehr hoch. Man kann jedes gesunde Baby so trainieren, dass es mit zehn Monaten geht. Aber dafür muss ich das Baby vom ersten Tag an aufrecht halten.

Du meinst: mit dem Kopf in die Höhe.

Ja, genau. Alleine das ist schon das Problem.

Aber den Kopf kann man ja gut stützen.

Die bekommen die Haltungsschäden nicht durch die Haltung an sich. Es geht um die Wahrnehmung. Sie gewöhnen sie sich daran, die Augen permanent in der Waagrechten zu haben und wollen natürlich am Boden nichts mehr alleine tun. Das sind dann die Kinder, die zum Beispiel das Krabbeln auslassen. Sie lernen entscheidende Bewegungskoordinationen nicht.

Wir haben unsere Tochter auch aufrecht gehalten. Sie hat oft Bauchweh gehabt.

Wenn das die einzige Position ist, wo der Bauch Ruhe gibt, dann soll man das schon tun. Aber dann bitte wieder in die Waagrechte. Das Problem ist ja, dass man Kinder von Anfang an fördern möchte. Ein Baby wird gefüttert, geputzt, umgewindelt. Es gibt ganz viele Interaktionen mit den Kleinen und die Eltern glauben, dass man die Kinder dazwischen auch noch entertainen muss. Stell dir einmal vor, du bist ein Baby und dauernd hält dir jemand etwas Buntes, Bewegliches vor die Nase. Irgendwann gewöhnen sie sich daran und dann wollen sie es. Es ist so als würde man sie vor die Glotze setzen. Dann sind die Kinder zwei Jahre und die Eltern lamentieren, dass das Kind ständig an ihnen hängt. Ja, was denn sonst? Man hat es ihm ja anerzogen.

Und dann will man die Kinder ruhig stellen. Aktivität und Stillhalten auf Knopfdruck sozusagen.

Ja, genau. Zuerst müssen sie im Eil-tempo laufen lernen um dann zu hören, dass sie gefälligst still zu sitzen haben und Ruhe geben sollen. Da werden Bedürfnisse geweckt, die dann mit Gewalt zurückgeschraubt werden müssen.

Dein Tipp lautet also: Lass das Baby Baby sein.

Das muss wirklich aus dem Kopf raus, dass man dem Baby etwas beibringen muss. Das Kind braucht das absolute Vertrauen der Eltern, dass es das Seine schon machen wird. In seinem Tempo zu seiner Zeit. Jedes Kind hat zwei Jahre Zeit, um gehen zu lernen. Wir brauchen eine Haltung aufmerksamer und beobachtender Zuwendung.

Wir sind natürlich sehr getaktet durch die ganzen Ratgeber. Wir hatten auch eine Bibliothek mit Kinderbüchern zuhause. Da sind natürlich Timetables drin, die sagen, wann welcher Entwicklungsschritt stattzufinden hat. Wenn da steht, ein Kind kann zwischen 9 und 24 Monaten laufen, wird man im neunten Monat ungeduldig.

Du darfst den Ehrgeiz junger Mütter nicht unterschätzen. „Was macht denn deines schon? Also, meines sitzt schon!“ Wir haben  eine wenig hilfreiche Vergleichskultur.

Das beginnt ja schon mit der Geburt. Man will die perfekte Geburt.

Ich sehe oft Eltern, die mit ihren neunmonatigen Kindern zwischen ihren Beinen „gehen“ trainieren. Die werden an den Händen hochgezogen und trippeln auf ihren Zehenspitzen. Das ist ein pathologisches Bewegungsmuster. Später müssen sie dann lernen wie man richtig abrollt. Umlernen ist immer schwieriger als lernen. Und sie gewöhnen sich daran, dass Hilfe von oben kommt, also von den Händen der Eltern. Wenn sie später stolpern und hinfallen, haben sie oft keinen Abstützreflex, sondern reißen die Hände nach oben. Stell dich einmal in der Position des Babys hin  und stell dir vor, du müsstest so gehen. Da bekommt man ein Gefühl dafür, wie unnatürlich das ist.

Welches sind denn die häufigsten Haltungsschwierigkeiten?

Beinachsenschwierigkeiten und Wirbelsäulenschäden. Ich habe noch niemanden in Händen gehabt, der Kreuzweht hatte und nicht zugleich seinen Bauch anspannen würde. Bauchmuskeln sind Bewegermuskeln und sie werden missbraucht zum permanenten Aufrechthalten gegen die Schwerkraft. Die kleinen Wirbelmuskeln werden dadurch komplett ausgeschalten. Und dann hat man Kreuzweh. Plattfüße, Hallux valgus, Spreiz- und Senkfüße, X-Beine, Rundrücken, Hohlkreuz – meist alles in der frühesten Kindheit angelegt, weil man den Kindern keine Zeit ließ, gut koordinierte Muskeln zu entwickeln. Plattfüße, Hallux, Spreiz- und Senkfüße, Rundrücken – meist alles in der frühesten Kindheit angelegt. Dann sagen die Eltern: steh doch gerade! Dann benutzt das Kind die dafür nicht vorgesehenen Bewegermuskeln, um sich aufzurichten.

Also Haltungsschulung für Schulkinder?

Nein, das bringt nichts. Wenn ich einem Kind, das sich mit verkehrten Muskeln aufrichtet, sage, dass es sich aufrichten soll, kommt noch mehr Durcheinander heraus. Am besten ist es, wenn die Schäden bereits da sind, den Kindern so vielfältige Bewegungsangebote wie möglich zu machen. Aber ohne Vorgaben bezüglich Aufrichtung. Für echte Verbesserung an der Körperstatik, muss das Kind soweit ausgereift sein, dass es wieder Interesse daran hat, sich selbst zu erforschen. Erst dann kann man wirklich etwas verbessern. Das beginnt etwa ab dem 15. Lebensjahr. 

Was kann ich denn heute gegen meine schlechte Haltung tun?

Tai Ji, Feldenkrais, Ji Gong, Körperwahrnehmung im weitesten Sinn. Bewusstheit ist das Wichtigste. Und wenn man irgendwo im Bekanntenkreis eine schwangere Frau hat, ihr diesen Artikel in die Hand drücken. Damit tust du etwas gegen die möglicherweise vorprogrammierte schlechte Haltung des werdenden Menschen.

Alexandra Kristl
Physiotherapie
alexandra.kristl@gmx.at
0699/ 10 49 11 98

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