Ja, genau! Die Kraft des Augenblicks

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Improvisation ist eine Fähigkeit jedes Menschen. Aufbauend auf Aus- und Weiterbildung, auf Erfahrungen im beruflichen und privaten Feld ist es möglich, aktiv mit Ungeplantem und Unvorhersehbarem umzugehen. Und es ist möglich neue Ansätze für herausfordernde Situationen zu finden, neue Zugänge für verschiedenste Lebensfelder. Text von Christian F. Freisleben-Teutscher

„Aber ich kann doch gar nicht improvisieren!“ – ein Satz der immer wieder zu hören ist. Verbunden mit der spürbaren Sehnsucht nach Sicherheit und der Fähigkeit, das Leben im Griff zu haben. Gerade in einer Zeit, wo lebensbegleitendes Lernen ein viel strapaziertes Wort ist, scheint es vor allem um Fachkompetenz zu gehen, um eine möglichst fundierte Aus- und Weiterbildung, um aktiv genutzte Erfahrungen aus verschiedensten Berufs- und Lebensstationen.

Frage: Wie ist dieser vorangegangene Absatz entstanden? Nun, jemand der mich kennt, könnte sagen: Ja, der Christian hat Kommunikations- und Theaterwissenschaft studiert, hat viele Bücher gerade auch zu Improvisation gelesen, spielt selbst seit vier Jahren Improtheater in der Gruppe ImPerfect und setzt Angewandte Improvisation in seinen Seminaren um. Ach ja, und Schreiben ist ja ein wichtiger Teil seines Berufsalltags… Klingt nach jeder Menge Kompetenz. Ja genau, und gleichzeitig spielt gerade auch beim Schreiben immer die Fähigkeit zur Improvisation eine wichtige Rolle: Es gibt eine breite Grundlage an Informationen, an Kompetenz, ebenso ein Konzept für diesen Text – und die Lust sich auf das nächste Wort einzulassen. Gedanken Raum zu geben und sich zu Worten, Sätzen, Absätzen formen zu lassen.

„Ja, genau“ ist eine wichtige Haltung in der Angewandten Improvisation. Also bewusst wahrzunehmen, welche Potentiale und Geschenke in dem enthalten sind, was uns andere sagen, welche Ideen wir selber haben. Menschen improvisieren ständig. Wenn wir etwa ein Gespräch führen, können wir uns – was gerade, wenn es um herausfordernde Themen und Situationen geht, sicher hilfreich ist – vorher drei Dinge überlegen, die wir auf jeden Fall sagen wollen. Und auch sicher stellen wollen, dass sie bei dem/der anderen auch so ankommen. Woher aber wissen wir ganz genau, wie der nächste Satz aussehen wird? „Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage!“ (Wilhelm Busch).

Improvisation ist eine Überlebensstrategie. Zugegebenermaßen bin ich kein großer Fan von Vergleichen mit den Steinzeitmenschen, aber an dieser Stelle muss schon die Frage erlaubt sein: Wie haben die denn überlebt, so ganz ohne Feuer, Werkzeug, Telefon? Sie haben improvisiert. Sie haben dabei die Dinge und Fertigkeiten genutzt, die ihnen zur Verfügung standen. Eine ganz wichtige Haltung in der Angewandten Improvisation ist vorhandene Ressourcen wahrzunehmen und aktiv zu nutzen: Sowohl meine eigenen – also ebenso solche, von denen ich bisher meinte sie gar nicht oder nicht ausreichend zu haben – als auch jene von Menschen in meinem persönlichen Umfeld.

Oft wird lange gegrübelt, was denn nun der optimalste nächste Schritt sein könnte. Viel Energie fließt in das Hinterfragen von Szenarien und die Aufzählung was dabei alles schief gehen könnte.  Die Theaterwissenschaftlerin und Improtheaterkursleiterin Patricia R. Madson motiviert dazu, „Beginne irgendwo“ bzw. „Handle jetzt“. Dabei geht es nicht darum in jeder Hinsicht perfekt zu sein: Oft ist es völlig ausreichend, mit dem scheinbar Durchschnittlichen zu beginnen und es manchmal dort zu belassen. Und oft wachsen wir mit diesem ersten Schritt über bisher scheinbar vorhandene Ängste und Barrieren hinaus, entdecken ungeahnte Kräfte und Fähigkeiten, binden völlig neue Aspekte von Menschen aus unseren Netzwerken ein.

„Beginne irgendwo“ bedeutet nicht planlos zu sein. Es geht um den Mut für den ersten Schritt, um den Griff zum Naheliegendsten, auch wenn dies im ersten Moment fast banal erscheint. „Handle jetzt“ bedeutet nicht, einfach alle Vorsicht fahren zu lassen und sich bewusst in Hochrisikosituationen zu begeben. Es geht darum, zu erkennen, dass gerade ich und meine Fähigkeiten in diesem Moment gefragt sind, dass niemand das Anstehende so angehen und lösen kann wie ich. Verknüpft ist dies mit einer Haltung der Achtsamkeit: Was steht hinter den Dingen, wie ist die Atmosphäre im Raum, was brauchen Menschen rund um mich, welche ihrer Fähigkeiten wäre jetzt besonders hilfreich, für wen oder was sollte ich mich einfach einmal bedanken?

Improvisation bedeutet ebenso die Chance des Fehler-Machens zu nutzen. Also vielleicht einmal zu stolpern, wieder aufzustehen, sich zu verbeugen und leichten Schrittes weiter zu gehen. In einer endlichen Welt ist der Anspruch an Perfektion letztlich die Quelle von ständiger Selbstüberforderung und Frust. Er verstellt den Blick darauf, was aus Situationen, die scheinbar völlig schief gelaufen sind, gemacht, gelernt, profitiert werden kann.

Kraftquelle Improvisation

„Schluss mit dem Theater, das Realität nur interpretiert, es ist Zeit sie zu verändern!“, sagte der im Vorjahr verstorbene Augusto Boal, der die Methoden des Theaters der Unterdrückten, des Statuen- und Forumtheaters entwickelt hat. „Jeder Mensch ist ein Schauspieler“, so Boal weiter. Jeder Mensch hat die Fähigkeit, sein / ihr Leben in die Hand zu nehmen. Aufzuhören, einfach eine Rolle zu spielen, die scheinbar festgeschrieben und vorgegeben ist. Anzufangen, sich einzubringen, gemeinsam mit anderen sowohl Rahmenbedingungen des Lebens als auch ganz alltägliche Abläufe weiter zu entwickeln. Angewandte Improvisation hat viel mit dem ganz „normalen“ Alltag zu tun. Und damit, sich nicht mit Gegebenheiten abzufinden.

Also: Jede/r kann improvisieren! Mehr noch: Improvisation ist unser ständiger Begleiter, Motor, eine unerschöpfliche Kraftquelle.

Buchtipp: Patricia R. Madson, Unverhofft kommt oft!: Entdecken Sie Ihr Improvisationstalent: 13 geniale Alltagsstrategien, Vak Verlag

Buchtipp 2: Ralf Schmitt und Torsten Voller,
Ich bin total spontan, wenn man mir rechtzeitig Bescheid gibt
Ariston-Verlag

Mag. Christian F. Freisleben-Teutscher, arbeitet als Berater, Referent und Journalist in den Bereichen Gesundheit, Soziales, Bildung und Nachhaltigkeit. Weitere Infos: www.cfreisleben.net

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