„In Liebe leben trotz Zerstörung“

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Geseko von Lüpke – Publizist, Zukunftsforscher und Chronist und Begleiter von Übergängen – über Wandel, Kollaps und Hoffnung. Das Gespräch führte Weltenwanderer Reinhold Richtsfeld

Herr von Lüpke, Sie sind ein Mensch, der sehr viel macht. Welche Berufsbezeichnung wäre denn am angemessensten?

Da gibt es so viele Schubladen, und ich habe das Gefühl, wir leben nicht mehr in den Zeiten von Schubladen. Ich habe einmal die Formulierung gefunden: Chronist und Begleiter kollektiver und individueller Übergänge. Ich begleite Menschen, die in Lebensübergängen sind. Zugleich haben wir gerade einen kollektiven Kulturwandel, bei dem ein System schrittweise kollabiert. Die Regeln, von dem, was individuell in einem Initiationsprozess geschieht, sind zu dem, was kollektiv passiert, gar nicht so unterschiedlich. Man geht durch Phasen von Chaos und Orientierungslosigkeit, Angst und Depression. Joanna Macy sagt, dass wir zugleich Sterbebegleiter eines alten Systems und Geburtshelfer für ein neues sind. Heute befinden wir uns genau an dieser Schnittstelle, wo wir beides zur gleichen Zeit sind.

Als Chronist von Übergängen kommt die journalistische und publizistische Seite dazu. Ich treffe Protagonistinnen und Protagonisten des Wandels, um zu lernen und über sie zu berichten. Insofern bin ich so etwas wie ein Netzwerker von entstehenden Zukünften, und fühle mich manchmal als Zukunftsforscher. Heute ist das nicht jemand, der sich vorstellt, wie das Jahr 2111 aussehen wird, sondern jemand, der ausfindig macht, wo sich Zukünfte entwickeln.

Zukünfte? Das Wort gibt es eigentlich nur im Singular.

Ich bin vor zwei Jahren einmal eingeladen worden, einen Vortrag über die Welt im Jahre 2050 zu halten. Ich habe dann begründet, wieso das gar nicht zu machen ist. Wir leben in einer solchen Beschleunigung, denn rein statistisch und mengenmäßig verdoppelt sich das Weltwissen alle sieben bis acht Monate. Wenn das so ist, dann vervierfacht sich das Wissen in vierzehn Monaten, und versechzehnfacht sich in 28 Monaten. Wenn wir das auf 50 Jahre hochrechnen, dann lassen sich überhaupt keine Szenarien mehr machen. Wir wissen nicht, wo die Wissenschaft und die menschliche Entwicklung in zehn oder fünfzehn Jahren sein wird. Die Welt wird schon ganz woanders sein, wird völlig neu sein, vielleicht auch bedrohlich, wenn man sich Nanotechnologie oder den Klimawandel ansieht. Es gibt in Wirklichkeit keine Szenarioforschung mehr, an der man die Gegenwart orientieren könnte, sondern es gibt viele verschiedene mögliche Zukünfte. Mein Gefühl sagt mir, es wird erst mal schwieriger werden, es wird mehr Krisen geben. Dazu wird es Menschen brauchen, die gut mit Krisen umgehen können. Menschen, die Krisen nutzen können, um grundsätzlichen Wandel einzuleiten. Krisen sind der Moment, wo Wandel am einfachsten ist, wo starre eingefahrene Strukturen am ehesten aufbrechbar sind.

Viele Menschen haben das Gefühl, dass sie gar nichts bewirken können.

Wenn wir uns als ein sehr tatkräftiges und kreatives Element von ständig weitergehender Schöpfung begreifen, dann haben wir einen ganz großen Einfluss. Es gibt dieses schöne Bild aus der Chaosforschung: Der Schlag eines Schmetterlings hier kann einen Tornado in der Karibik auslösen, weil die Gleichgewichtsverhältnisse so labil sind, dass eine winzige Veränderung Dominoeffekte hervorrufen kann. Wenn das ein Schmetterling kann, kann ich das auch. Wir müssen erst begreifen, dass aus dieser Vielzahl von kleinen Handlungen große Bewegungen entstehen können.

Frage an den Zukunftsforscher: Was wird denn passieren?

Ich denke, es wird regionaler werden, viel dezentraler. Wenn wir kein Öl mehr haben, und keinen wirklichen Ersatz für diesen Zaubersaft, wird es wenig Globalisierung geben. Dann bekommen wir keine Ananas mehr aus Venezuela, weil der Transport nicht mehr zu finanzieren ist. Wir werden uns wieder auf regionale Bezüge einstellen müssen. Das darf aber nicht in einen Lokalpatriotismus führen, wie wir ihn schon über Jahrhunderte in Europa gehabt haben. Es braucht ein Mittelmaß zwischen interkultureller Vernetzung und Offenheit, eine Zusammenarbeit von unabhängigen Einheiten, genauso wie bei unseren Körperzellen. Eine Zelle kann nur existieren, wenn die Zelle daneben ebenso lebendig und durchlässig ist. Jede einzelne Zelle von uns hat 1500 Recycling-Einrichtungen, die die Materie wieder neu aufbereiten. Wir sind als Körper das beste Beispiel dafür, dass es mehrzellige große Biosysteme und Organismen gibt, die aus einzelnen komplexen Einheiten bestehen.

Die System Erde ist komplex, doch viele Entwicklungen wie der Klimawandel sind weit vorangeschritten. Ist dieser Wandel aufzuhalten?

Das Antlitz der Erde wird sich verändern, die Klimazonen werden sich verschieben. Wir werden viele Menschen aus den südlichen Ländern aufnehmen müssen. Das kann schon für Italien gelten, das vielleicht zur Wüste wird. Ich habe neulich ein Interview gemacht mit Elisabeth Satoris, einer Evolutions- und Zukunftsforscherin. Sie sprach ganz nüchtern von „a better life on a hotter planet“. Es wird viel passieren, was neu ist. Es kommt darauf an, wie kreativ wir mit diesen Situationen umgehen. Wir haben in der Geschichte der Menschheit schon unendlich viele Krisen überstanden. Es wird nicht in dieser grundsätzlichen Partystimmung weitergehen wie bisher mit immer mehr Wachstum und Konsum. Unser System, das einen Verdrängungswettbewerb unterstützt á la „ich lebe besser, weil du schlechter lebst“, ist suizidal. Das wäre so, wie wenn in unserem Körper die Leber anfängt mit der Lunge um Sauerstoff zu kämpfen. Unser wirtschaftliches Wertesystem fördert solche negativen Werte wie Egoismus, Geiz oder Neid.

Was sind die Alternativen?

Es gibt Werte, die in der menschlichen Beziehung funktionieren, das sind Solidarität, Kooperation, Mitgefühl. Wir tun so, als ob die Wirtschaft nichts mit diesen Werten zu tun hätte.

Aber es gibt eine starke Sehnsucht nach diesen Werten.

Paul Ray, ein amerikanischer Soziologe, hat jahrzehntelang den Wertewandel in den USA erforscht. Er stellte fest, dass etwa ein Fünftel der Bevölkerung nach traditionellen Werten lebt, ungefähr ein Viertel nach etwas progressiveren Werten, aber alle halten am gleichen auf Konkurrenz basierenden System fest.

Zugleich gibt es jedoch eine wachsende Gruppe von Menschen – diese ist fast schon so groß wie die beiden Gruppen der Erzkonservativen und der Moderaten – die sich an neuen Werten orientiert. An Werten wie wie Nord-Süd-Ausgleich, spirituellem Wachstum, ökologischer, vegetarischer Ernährung, Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, Schuldenerlass für die dritte Welt. Also Werten von Solidarität und Mitgefühl, die sie in die Welt tragen wollen, um nicht mehr Teil des bestehenden Systems zu sein. Diese Gruppe wächst kontinuierlich, während die beiden anderen Gruppen schrumpfen.

Es gibt das interessante Phänomen der Selbstunterschätzung. Wenn man jemanden fragt, dann glaubt er, er steht alleine da, oder fast alleine. Viele Menschen meinen: „Leute, die so denken wie ich – ach, das werden vielleicht eine Million sein“. Und wenn man dann soziologisch nachfragt, stellt man fest, dass es 20 Millionen sind. Der Kipppunkt liegt schon viel näher als wir glauben, aber die Medien berichten nicht darüber. Das, was sich unterhalb der Oberfläche in den Graswurzeln tut, ist noch nicht so selbstverständlich und sichtbar, doch es geschieht weit mehr, als wir eigentlich denken.

Vor Kurzem wollte ich in einer Geschichte für den Bayrischen Rundfunk einen Abgesang auf die Friedensbewegung machen. Bei Recherchen stellte ich fest, dass die Zahl der Kriege in den letzten 20 Jahren um 90 Prozent zurückgegangen ist. Kanadische Friedensforscher, ernstzunehmende Akademiker von der Universität von Vancouver, sagen, dass wir auf bestem Wege sind, erstmals in der Geschichte der Menschheit den Krieg abzuschaffen. Und keiner weiß davon, weil die Medien ununterbrochen von Blut und Terror, Attentate und Kriege berichten. Seit 1990 die Zahl der großen Kriege um 90 Prozent zurückgegangen.

Was sind die Ursachen dieser überraschend positiven Entwicklung?

Die wesentlichen Gründe scheint das Engagement von Frauen in aller Welt für eine andere Form von Kommunikation und Konsenssystemen zu sein. 70 bis 80 Prozent der Friedensaktivisten sind Frauen.

Es gibt also auch Hoffnung?

Wir sind an einem Punkt, wo der Wandel entweder zu einem neuen Lebensstil führt oder in eine Zerstörungsdynamik. Wenn das große System kollabiert, müssen wir aufpassen, dass wir es so zur Ruhe betten, dass es beim Umfallen nicht zu viel kaputt macht.

Wenn wir in einem solchen Übergang stecken, der uns erstmal in die Krise geführt hat, was gibt es denn für Möglichkeiten, damit gut umzugehen?

In allen Zeiten und in allen Kulturen der Welt gab und gibt es Übergänge und Übergangsrituale, um Veränderungsprozesse zu gestalten und zu bestärken. Menschen wandeln sich ständig, wir wandeln uns vom Kind zum Jugendlichen, vom Jugendlichen zum Erwachsenen, vom Single zum Menschen, der in Partnerschaft lebt, wir kriegen Kinder, wir überschreiten die Lebensmitte, wir werden alt, werden schwächer, orientieren uns mehr nach innen als nach außen, und irgendwann kommt der letzte große Übergang. Wir scheiden aus dem Leben ohne zu wissen wohin es geht. Was ich sagen will ist: Das einzig Sichere, was wir im persönlichen Leben haben, sind Übergänge und Krisen. Das Erwachsenwerden und Reifen, was daraus entsteht, ist ein wesentlicher Prozess sowohl für den individuellen als auch für den kollektiven Wandel. Wir müssen erstmal begreifen, dass die Krise gut und nötig ist. Und dann daraus lernen und handeln!

Es gibt also die persönlichen Übergänge, aber nicht die passenden Rituale?

Richtig! In unserer Gesellschaft haben wir kaum mehr Rituale zu den Wachstumsprozessen der Seele. Heute brauchen wir für Menschen, die durch Krisen gehen, Massen von Psychologen, Psychotherapeuten und Psychopharmaka, um nicht vollzogene Übergänge und Veränderungsprozesse nachzuholen.

Zu meinen Visionssuche-Seminaren kommen Menschen häufig nicht deshalb, weil sie sich wandeln wollen, sondern weil sie sich bereits gewandelt haben und ihr innerstes Bild nicht mehr übereinstimmt mit dem, was sie in der Welt repräsentieren oder tun. Oft geht es darum, eine neue Form von Arbeit zu suchen, fehlgeschlagene Beziehungen zu heilen, oder darum, neue Aufgaben in einem größeren Kontext wahrzunehmen und das eigene Potential zur Entfaltung zu bringen.

Betrifft diese Sehnsucht, das eigene Potential zu entfalten, nur wenige oder geht das heute allen so?

Wenn dieser innere Wandel bei allen Menschen stattfindet, frage ich mich manchmal, ob wir genug darüber reden. Viele haben diese neuen Erfahrungen, die nicht mit dem alten Weltbild übereinstimmen, und halten das für einen individuellen Prozess. Doch in Wahrheit ist es ein kollektiver Prozess. Ich habe oft das Gefühl, dass viele diese Selbstwahrnehmung haben: „Ich glaub ich spinn jetzt ein bisschen“ oder „Irgendwie funktionier ich nicht so wie der Rest“.

Der Psychologe und Bewusstseinsforscher Thorsten Passie zum Beispiel hat in Forschungen festgestellt, dass 97 Prozent aller Menschen außergewöhnliche Bewusstseinszustände oder mystische Erfahrungen haben. 97 Prozent! Nicht dauernd und häufig, aber schon eine solche Erfahrung kann ja durchaus dein Leben verändern! Sei es eine Drogenerfahrung, eine Naturerfahrung, eine sexuelle Erfahrung oder irgendeine andere Form von religiöser Ekstase oder Trance. Wenn das so viele erleben, aber kein Raum für diese Themen besteht, wird etwas gesellschaftlich wegtabuisiert anstatt unterstützt.

In Wirklichkeit ist es eine kollektive Erfahrung.

97 Prozent der Menschen laufen mit einem Selbstbild herum, dass sie eigentlich ein bisschen verrückt sind, weil ihre innere Erfahrung nicht mit der äußeren Welt zusammen trifft. Da gibt es ein unglaubliches Potential für Veränderung, wenn du ihnen klarmachst: „Hey, du bist ein völlig normaler Mensch! Schau, dass du dir Räume schaffst, wo du dieses Potential weiterentwickeln kannst, wo du aus diesen Erfahrungen lernen kannst.“ Also, vielleicht passiert hier schon viel mehr als wir denken.

Wir dürfen also Hoffnung haben. Es passiert mehr als wir denken, und jeder von uns kann etwas beitragen.

Ich bin authentischer mit meinem Leben, wenn ich mich engagiere. Mir geht’s dann einfach besser. Ich kann meinen Kindern in die Augen schauen mit dem Gefühl, ich tu was für das Leben und bin nicht Teil eines zerstörerischen Prozesses. Das schafft Lebensqualität, das lässt mich in Liebe leben trotz Zerstörung.

Was ganz wichtig ist: wir dürfen uns von zerstörerischen Prozessen, die überall auf der Welt passieren – ob es jetzt irgendwelche Attentate sind, Ölkatastrophen oder Fukushima – nicht abschließen. Ein natürlicher Reflex ist: „Ich will davon nichts mehr wissen“, aber es geht genau darum, sich berührbar zu machen, den Schmerz zu spüren, die Trauer wahrzunehmen, sie aber nicht in sich zu nehmen. Wir müssen im Feedback bleiben und reagieren, anstatt uns abzuschotten.
Die größte Katastrophe ist, dass wir unsere Hand auf der heißen Herdplatte haben, der Qualm steigt schon hoch, aber wir merken es nicht und ziehen die Hand nicht weg. Wir müssen wieder beginnen, Verletzungen zu spüren.

Geseko von Lüpke, Dr. rer. pol., Jahrgang 1958, studierte Politologie und Ethnologie und ist Journalist und Autor zahlreicher Buchpublikationen, u.a. zu den Themen Kultur, ganzheitliche Ansätze in der Wissenschaft, nachhaltige Zukunftsgestaltung, ökologische Ethik und Spiritualität. Zuletzt erschienen: »Zukunft entsteht aus Krise«. Antworten von Joseph Stiglitz, Vandana Shiva, Wolfgang Sachs, Joanna Macy, Bernard Lietaer u.a. (Rieman 2009)
http://www.tiefenoekologie.de/de/menschen/dr-geseko-von-luepke.html

Reinhold Richtsfeld, Mag. Dipl. Ing., Jahrgang 1977, studierte Elektrotechnik und Soziologie und ist seit 2008 Weltenwanderer, Autor und Vortragsreisender. War 7000km zu Fuß unterwegs auf der Suche nach zukunftsfähigen Lebensstilen. Im aktuellen Bildervortrag „Das Herz des Abenteuers“ berichtet der Wanderer von den Erfahrungen seiner Reise, die ihn durch Westeuropa, auf die Kanarischen Inseln bis nach Marokko und retour führte.
www.rytz.at

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