Ich fließe, also bin ich

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Schon der alte Heraklit ernannte den Fluss zur Leitmetapher des Lebens.
Von Christoph Quarch

Panta rhei: Alles fließt. Wenige Philosophen-Sprüche haben es mit solcher Hartnäckigkeit zum geflügelten Wort gebracht wie diese zwei Worte des Heraklit. Und wenige sind so selten verstanden worden wie diese Weisheit jenes Denkers des 6. Jahrhunderts vor Christus, der in Ephesos lebte und schon der Antike als der „Dunkle“ bekannt war. Warum? Weil er es liebte, seine Weisheit in aphoristischen Rätselworten vorzutragen – ganz so wie das Orakel von Delphi, über das er sagte, es rede weder klar und deutlich, noch verberge es, sondern es deute an.

Der Gott ist Tag und Nacht, Sattheit und Hunger

Was also will Heraklit andeuten mit seinem panta rhei? Was ist der tiefe Sinn hinter diesem Wort, der seine große geistesgeschichtliche Karriere gerechtfertigt scheinen lässt? Einfach nur, dass auf Erden nix von Dauer ist und sich alles immerzu ändert? Das wäre reichlich trivial und kaum einem Heraklit angemessen – einem, der so tiefe Worte formulieren konnte wie: „Der Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sattheit und Hunger – er wandelt sich wie Feuer, mischt sich dies mit Duftstoffen, so heißt es nach dem jeweiligen Geruch“ (Fr. 67).

Man hätte auch andere tiefsinnige Worte des „Dunklen“ zitieren können, aber dieses hier bietet sich vielleicht deshalb besonders an, weil es zweierlei zeigt: Das Alles, von dem er sagte, es fließe, ist nichts anderes als das, was er anderenorts „Gott“ nennt. Und dieses Alles fließt in der Weise des Wandels. Das heißt: Es schwimmt nicht einfach davon, sondern es ist in der Weise des Fließens, das heißt des kontinuierlichen Sich-Veränderns; wie Proteus, der antike Halbgott, der dauernd seine Erscheinung variierte.

Wobei die besondere Pointe des alten Heraklit ist, dass das Alles noch nicht einmal davor zurückschreckt, sich in sein Gegenteil zu verkehren: „Eines und dasselbe sind Lebendes und Totes, Wachendes und Schlafendes, Junges und Altes: denn dies schlägt um in jenes und ist jenes, und jenes wiederum schlägt um in dieses und ist dieses.“ (Fr. 88); und dass genau darin die unwiderstehliche Schönheit dieses Universums besteht: „Das Widereinander-Stehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie.“ (Fr. 8).

Immer wird Neues, Unerwartetes geboren

Das fließende Alles des Heraklit – es ist wie eine schöne Musik, deren harmonischer Zauber sich aus der Polarität der Gegensätze und Kontrapunkte speist: „Zusammengefasst sind Ganze und Nichtganze, Einträchtiges und Zwieträchtiges, Einstimmendes und Missstimmendes – das heißt: aus allem eines und aus einem alles.“ (Fr. 10). Alles fließt – das heißt: Alles schlägt um, wandelt sich; immer wird Neues, Unerwartetes geboren. Und immer ist es darauf aus, sich zu einem stimmigen Ganzen zu fügen. Das ist die Natur des Lebens und das Leben der Natur. Sein ist Leben – und das, so lehrte der alte Weise, gilt für das Leben im Kleinen wie im Großen: für jede einzelne Seele ganz so wie für den großen Kosmos.

Weshalb das Wort des Heraklit jeden Einzelnen angeht. Denn eigentlich müssten wir dank seiner seit 2.500 Jahren wissen, dass wir nur dann naturgemäß leben – nur dann unserem Leben gemäß leben –, wenn wir uns dem Wandel nicht verschließen. Wenn wir es zulassen, uns zu verändern – und uns verändern zu lassen; umzuschlagen und uns umschlagen zu lassen. Sein heißt Im-Fluss-Sein, so lehrte dieser Älteste der europäischen Kultur. „Ich fließe, also bin ich“, hätte er auch sagen können; oder „Stillstand ist der Tod“, aber das hat ihm derweil Herbert Grönemeyer abgenommen.

Irgendwie jedenfalls wissen wir alle, dass das stimmt. Nur, dass wir es meist vergessen; denn – um ein letztes Mal Heraklit zu zitieren – „die Natur (das Wesen, das eigentliche Leben) liebt es, sich zu verbergen.“

Christoph Quarch ist Herausgeber des Magazins „Wir-Menschen im Wandel“, dem wir uns herzverbunden fühlen. www.wir-menschen-im-wandel.de

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