Erst wenn du bei dir angekommen bist, kannst du in den Austausch gehen

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„Die Gesellschaft besteht aus Baumkronen ohne Wurzeln. Beim kleinsten Windstoß ist man entblättert.“, sagt Claudia Christine Winter, Leiterin des Tantra-Tempels yabyum in Wien. Ein Gespräch über Sexualität, Leistung und die Suche nach Sinnlichkeit, geführt von Harald Koisser

Wann komm ich zu dir, außer wenn ich gerade ein Interview mache?

Wenn in dir das Gefühl entsteht, da muss mehr sein, aber du hast kein Bild davon. Es ist ein sexuelles Thema, das dich begleitet. Wir alle haben Zyklen, in denen wir uns entwickeln. Da haben wir beim Mann etwa den Zeitraum zwischen 42 und 49. Da ändert sich die Sexualität gravierend.

Gut, ich bin 49. Erzähl mir etwas über mich.

Der Mann hat bisher geglaubt, er hat einen Knochen und kein Weichteil in der Hose. Er bemerkt vielleicht das erste Mal: da ist eine tolle Frau, aber ich habe keine Erektion.

Hm, das kenne ich. Da war ich 18.

Und das kommt wieder. Wenn der sichere Rahmen der Familie nicht mehr notwendig ist und man mit sich selbst wieder konfrontiert wird. Das Bedürfnis ist vielleicht nicht mehr so da, die Erregung findet irgendwie anders statt. Dann geht man auf die Suche.

Und wie ist das bei der Frau?

Das ändert sich auch so um die 40 und zwar in Richtung Aktivität. Die Frau merkt das erste Mal, dass etwas da ist, das stärker und mächtiger ist als sie selbst. Möglicherweise hat sie das auch bei einer Geburt erlebt, aber dann war Kinderaufzucht. Sie musste ab dann mit ihrer Präsenz für die Kinder da sein. So war klassische Sexualität eine zeitlang nicht wichtig. Heute spürt sie: da ist eine Erregung, aber ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Ich habe jetzt 20 Jahre „trainiert“, keine Lust zu haben. Wie mache ich meinem Partner jetzt klar, dass da etwas ist?

Das klingt nach der Matrix eines klassischen Beziehungsdramas.

So ist es. Die Frau erkennt, dass sie ihren Mann hat darben lassen, ihn nicht genährt hat. Jetzt ist sie freudig erregt. Dann hat sie die Panik: kann ich das bedienen? Mit Frauen, die ihre Sexualität wieder entdecken wollen,  arbeite ich zu diesem Thema. Es geht darum, wieder eine Wurzel zu bilden. Wir leben in einer sehr yangigen, shivaitischen Welt. Alles ist höher, schneller, weiter. Heißer, direkt. Die weibliche Energie (Erde, Quelle, Feuchtigkeit) wird ignoriert. Irgendwann meldet sich die Erde und sagt: ich will auch wahrgenommen werden. So um die 40 merkt man, dass die Gesellschaft aus Baumkronen besteht ohne Wurzeln. Beim kleinsten Windstoß ist man entblättert.

„Die Gesellschaft“ – sind das wir hier und jetzt?

Wir leben sehr stark im Männlichen, Heißen. Wir kriegen die Rechnung präsentiert für das Vernachlässigen der weiblichen Energie. Männliche Energie ist zielorientiert, linear, strukturiert. Stell dir vor, wir haben ein Swimmingpool in unserem Vorgarten. Da ist diese Begrenzung und die weibliche Energie ist das Wasser darin. Nur beide zusammen haben wahre Stabilität. Das Pool fällt bei jedem Windstoß in sich zusammen, wenn sich darin kein Wasser ausgedehnt hat. Es kann nur Struktur halten, wenn sich das Wasser ausdehnt. Umgekehrt kann sich Wasser nur ausdehnen innerhalb von Struktur. Ohne Pool ergießt es sich überallhin, haltlos, grenzenlos. Und es verdunstet.

Wir haben die respektvolle Achtsamkeit vor der gegenseitigen Energieform vernachlässigt. Wir wollen uns auf androgyne Wesen zubewegen. Männer sollen sich verweiblichen und Frauen vermännlichen. Und zwar ganz real im manifesten Körper. Wie soll denn das gehen? Eine Frau mit ihrer Wasserenergie muss plötzlich Struktur halten. Alleinerziehende Mutter, Führungsposition. Klar kann sie das, aber wo ist das Maß? Wie hoch ist der Aufwand?

Wasser kann Form halten, wenn es einfriert.

Ja, das ist ein schöner Vergleich. Männliche Energie hingegen ist heiß und schnell. Sie vertrocknet ohne Wasser. Wir denken heute, wenn wir uns einander annähern und androgyn werden, ist das die wahre Transzendenz. Transzendenz passiert so wie Strom nur zwischen Plus und Minus-Polen laufen kann. Wenn ich mich in meiner Männlichkeit oder Weiblichkeit spüren kann, im Fluss bin, habe ich Chance auf Transzendenz.

Das von Dir so krass beschriebene Beispiel, dass eine  Frau ein Kind bekommt und dann 20 Jahre lang „Migräne“ hat, möchte ich hinterfragen. Ich weiß, es ist ein Bild. Aber wenn das zu einem Muster der Sexualität geworden ist, frage ich mich, was denn da passiert ist. Die Frau ist doch wohl auch als Mutter grundsätzlich noch ein sexuelles Wesen. Das ist doch nicht naturgegeben, dass das ausgeblendet wird.

Die Mutter ist bis zu unserem siebenten Lebensjahr unsere heilige Mutter und Lehrerin. Sie ist die Basis. „Heilig“ meine ich im Sinne von Ganzwerdung. In dieser Phase ist die Libido eingeschränkt. Sex in dieser Phase ist meist geistig herbeigeführt. Das führt auch zu einem guten Ergebnis, aber die Quelle ist eine andere. Ab dem 7. Lebensjahr hat das Kind einen weiteren Lehrer und das ist der Vater. Er wird bis zum 14. Lebensjahr der heilige Lehrer. Die Mutter hat da weitgehend ausgedient. Sie hat das ihre getan und könnte sich zurückziehen.

Wenn da nicht die Scheidung wäre.

Ja, da findet eine Abstoßung statt. Die Mutter sagt sich: ich habe es bis hierher geschafft, also schaffe ich es auch weiterhin. Damit wird ab hier auch weiterhin Sex verstandesgemäß herbeigeführt, obwohl die natürliche Sexualität längst wieder erwacht. Der Verstand ist sehr Egobetont. Hab ich etwas davon oder nicht?

Es ist ein Paradoxon unserer scheinbar so aufgeklärten Gesellschaft, dass Sex variantenreich in TV-Shows abgehandelt wird, aber die Leute werden dort eher als Freaks vorgeführt. Ein freier und erwachsener Umgang mit Sex herrscht bei uns trotz nackter Körper an jeder Straßenecke nicht vor.

Selbst ein Yoghurt wird sexuell verkauft.

We’re oversexed and underfucked, wie Bernhard Ludwig gesagt hat.

Wir können uns dem nicht entziehen. Laszivität ist überall. Zielorientierte Sexualität, die andauernd etwas verkaufen will. Immer ist da ein Ziel. Sex, Sex, Sex – mit einem Ziel. Der Mann will dann auch seiner Frau den besten Orgasmus der Welt verschaffen. Wie oft ich das höre. „Es geht nicht um mich, nur um sie. Sie soll es gut haben!“ Aber das ist doch SEIN Ziel. Sein Egoismus. Meist besorgt er es ihr für sein eigenes Ego.

Das ist der leistungsorientierte  Zugang. Und dafür schläft die Frau mit ihm, damit er eine Freude hat. Jeder tut es für den anderen.

Jeder geht nach außen.

Und niemand ist bei sich.

Erst wenn du bei dir angekommen bist, kannst du in den Austausch gehen. Unsere Sexualität, wie sie heute passiert, ist geil, lustvoll, alles. Aber es kommt zu keinem Austausch. Es berühren sich manuell und intensiv zwei Körper. Aber die Seelen hinter den Augen kommen nicht in Kontakt. Nach geilem Sex ist jeder erschöpft wie nach einem Workout – Sex gleicht ja oft mehr einem Kampf als einem Austausch – und kaum ist die Erschöpfung abgeklungen fragt man sich, ob da nicht mehr sein kann. Noch mehr Reiz. Noch mehr Action.

Die Frage ist also, woher bekommst du deine Stimulation?

Es geht um eine Einkehr. Wer bin ich, was brauche ich? Wenn man das weiß, kann man ruhig tausende Dinge ausprobieren. Alle Dinge, die uns zur Verfü-gung stehen – BDSM, Sexvideos – alle sind gut. Weil alles ein Mittel sein kann für meine Findung. Doch es darf nicht Selbstzweck werden. Dann ist es zielorientiert.

Was ist der Weg zur Sinnlichkeit? Reden, berühren?

Es kann mich auch ein Wort berühren. Aber ein Wort wird zuerst im Kopf aufgenommen und dann bewertet. Mit fast 2 m2 Haut ist jede körperliche Berührung aber ganz unmittelbar. Wenn ich eine zeitlang achtsame Berührungen erfahre, die ich als schön empfinde, kann mir mein Gehirn nicht mehr einreden, das gehört sich nicht, wie unsere christlich-sozial dogmatisierte Welt es uns einreden will. Der Körper sagt: Es ist gut, denn ich habe es gespürt. Der Verstand wird overruled.

Es geht also darum, in’s Spüren zu kommen. Das dürfen wir offiziell ja kaum mehr. Der Manager darf nicht sagen: ich spüre, dass das so richtig ist. Er braucht immer die Beweisführung.

Ja, und darum erfreue ich mich an der Quantenphysik, die heute die eigene Physik immer mehr in Frage stellt.

Es wird zu eng im eigenen Haus.

Es hat immer Regeln gegeben und Ausnahmen. Heute nehmen die Ausnahmen überhand.

Wenn wir nun annehmen, dass wir uns in einer Zeitenwende befinden, die zum Guten führen wird, zu einer Rückkehr zur Vereinheitlichung unserer Wesenskerne, wo Yin und Yang mehr im Einklang sein werden als jetzt, wir somit also auch mehr in’s Spüren und Fühlen kommen, dann ist die Frage: wie bereiten wir uns gut darauf vor. Ist das der Weg – der tantrische Weg?

Ich halte es da mit Osho: Egal, was du machst, Stricken, Joggen oder Zazen, irgendwann kommst du zu Tantra. Alles andere hat mit Willen zu tun. Jede Praktik der Entwicklung ist mit Willen verbunden und das ist das Ego. Tantra aber ist die einzige Lebenshaltung, die keinen Willen erfordert. Tantra sagt zuerst: löse dein Ego auf. Selbst im Yoga schwingt mit: diese Position will ich erreichen, das will ich schaffen.

Ich erinnere mich, dass ich als Kind ein Tantra-Buch im Schlafzimmer meiner Eltern gefunden habe mit sehr schönen und sehr sexuellen Zeichnungen, die mich sehr begeistert haben. Aber sie wirkten auch wie akrobatische Anleitungen, wo ich mir dachte: das schaffe ich nie.

Das war mein erster Zugang zu Tantra vor 17 Jahren. Ich hatte zwei Kinder und meine Libido war am Boden. Da habe ich entdeckt: mein Mann geht fremd. Da fiel auf einmal mein ganzes Lebensbild zusammen. Da dachte ich: naja, wenn ich mehr drauf habe, geht’s vielleicht besser, und da habe ich mir das Kamasutra gekauft. Als ich die Stellungen gesehen habe, war mir klar: so nicht. Aber ich habe darin viel über Tantra gelesen und das war der Beginn meines Weges.

Osho sagt ja, dass du letztendlich, als großes Ziel, die Sexualität transzendieren sollst und es dann keine Sexualität mehr brauchst. Das ist ein Quantensprung. Da leben wir jetzt in unserer Gesellschaft so, dass wir keinen guten Sex haben, weil wir uns selber nicht mehr spüren, und jetzt sollen wir uns dorthin bewegen, wo wir ohenhin sind: auf eine Gesellschaft ohne Sex. Nur unter anderen Voraussetzungen.

Ja, aber der Weg, der dich dorthin führt, heißt, du musst dich voll und ganz in den Sex hinein fallen lassen. Die größte Chance, in den Zustand zu kommen, wo Sex sich auflöst, liegt darin, ganz nach innen zu gehen und dich zu entdecken und deine Sexualität voll und ganz zu leben. In diesen saturierten Gesellschaften mit all ihren Möglichkeiten besteht die Chance darin, sie zu nutzen. Nichts zu unterdrücken, egal was da ist. Wenn Neigungen in dir sind, die du als nicht konform betrachtest und sie deshalb unterdrückst, so werden sie stärker und stärker. Du löst etwas nur, wenn du es lebst. Wenn du eine Neigung hast und es nie probierst, kannst du es nie loslassen. Darum ist alles, was existiert, grundsätzlich gut. Solange niemand dabei zu schaden kommt.

Das heißt, ich bin frei mit mir zu tun, was ich will. Ich kann mich in der Selbstbefriedigung auch umbringen, so wie David Carradine es gemacht hat.

Es gibt eine östliche Religion, die den Selbstmord bejaht. Ich begrüße das nicht. Aber grundsätzlich: ja! Du kannst tun was du willst.

Siehst du dich als eine Begleiterin hin zu diesem finalen transzendenten Zustand nach Osho?

Nein, das ist zu weit. Es gibt hier kaum jemanden, der das schaffen wird. Ich bin bloß Mittlerin zwischen den einzelnen Entwicklungsstadien und kann nur bis dorthin begleiten, wo ich selbst stehe. Ich kann ja nur aus Erfahrungen reden. Und meine Erfahrungen sind limitiert. Ich muss zum Beispiel Geld verdienen, um zu überleben. Erst wenn ich nicht mehr Geld verdienen müsste, könnte ich einen nächsten großen Entwicklungsschritt tun.

www.yabyum.at

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