Berühren und berührbar sein

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„Es ist lächerlich, sagt der Stolz. Es ist leichtsinnig, sagt die Vorsicht. Es ist was es ist, sagt die Liebe …“
Ein paar Gedanken zum Thema Berührung von Mag. Atma Pöschl

Berührung ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Und doch ist in unserer Welt etwas in Vergessenheit geraten, das die natürlichste Sache der Welt sein sollte: Berühren und berührbar Sein.

„Früher berührte eine Mutter ihr Kind und spielte mit seinem Körper. Auch Liebende spielten mit ihren Körpern, und das war mehr als genug, tiefe Entspannung und Teil der Liebe. Aber heute,“ so provozierte der indische Mystiker Osho 1970, „ist Berührung eine der meistvergessenen Sprachen. Es ist uns fast peinlich, zu berühren,“ und wir haben Angst davor, „weil das Wort Berührung durch sogenannte religiöse Menschen verschmutzt worden ist.“

Auch meine Mutter hatte Angst: Sex vor der Ehe war eine Sünde, und bei meinem ersten Gynäkologenbesuch wollte sie mit mir ins Behandlungszimmer gehen. Sonntags gingen wir zur Heiligen Messe. Mein Körper war also in der Kirche, mein Geist auf Wanderschaft, meine Trauer innerhalb der Mauern, meine Sehnsucht über alle Berge. Und ich hatte Angst. Denn ich hätte ihre Unterstützung als Mutter gebraucht, die Sexualität als Ausdruck der Liebe willkommen heißt und ihre Angst vor Berührung als Teil der eigenen Geschichte spürt. Ihre liebevolle Berührung war – soweit ich zurückdenken kann – Mangelware: Denn sie hatte das als Kind genauso erlebt.

„Es wäre wünschenswert, wenn Eltern sich und den Kindern freier ihre Liebe zeigten,“ bemerkte 1971 auch der amerikanische Wissenschaftler Ashley Montagu. Und er meinte damit nicht Worte, sondern eine Haltung zärtlicher Verbundenheit, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen brauchen: Denn vermittelt uns eine Berührung Zuneigung und Verbundenheit, fühlen wir Sicherheit, Verbundenheit und Befriedigung. Mangelnde Berührung führt hingegen zu einem Mangel an solchen Assoziationen und zum Unvermögen, Kontakt mit anderen Menschen zu finden.

„Contactum“ (lat.) meint aktiven und passiven Körperkontakt. Und wenn ich das Wort „Berührung“ verwende, meine ich damit befriedigende Nähe, das Empfinden der eigenen Haut und der Haut eines anderen. Berührung kann Streicheln, Tätscheln, Ansichdrücken oder Halten sein und sich vom einfachen körperlichen Kontakt bis zur massiven taktilen Stimulation beim Geschlechtsverkehr erstrecken. Geschlechtliche Befriedigung ist übrigens nicht lebensnotwendig. Doch kein Organismus kann allzu lange ohne Berührung leben.

Säuglinge, die nicht berührt werden, sterben. Das Entscheidende eines jeden Berührungsdialoges ist jedoch die Berührungsqualität: Wie zögerlich ist Berührung? Und wie steht es um die Fähigkeit des Eingehens auf den Anderen? Falsche Berührung führt bei Babies zum Weinen, sprachlosen Rückzug und zu Verwirrung, fehlende Berührung zu Ohnmacht und (Auto)aggression. Jugendliche werden ohne Berührung (selbst)verletzend und gewalttätig. All das ist wissenschaftlich erforscht und diagnostiziert. Erwachsene macht fehlende Berührung hart. Das ist normal.

Oft haben wir als Kind schmerzhafte Erfahrungen gemacht: Und manchmal meidet das Kind in uns immer noch die Nähe und Intimität, die wir uns als Erwachsene so sehr wünschen. Also suchen wir nach Ersatz und Entspannung: in der Arbeit, im Essen, Sport, starrem Glauben, beziehungslosem Sex, Alkohol, Selbst- oder Fremdverletzung …

Und doch können wir Druck und Einsamkeit nur dann wahrhaftig begegnen, wenn wir die Bedeutung bloßer Berührung über die Kindheit hinaus begreifen – und ihr Rechnung tragen! Auch bei Menschen im Koma verbessern sich die Herzwerte, wenn ihnen die Hand gehalten wird: Liebevolle Berührung ist wichtig, auch für Erwachsene. Sie macht lebendig, nährt und vermittelt Vertrauen in uns selbst und andere. Nicht zuletzt bildet die bedingungs- und absichtslose Berührung eines Kindes auch die Basis für erwachsene Sexualität – die ein Geben und Nehmen braucht.

Als Trainerin und Coach für Körper-sensibilisierung arbeite ich heute mit Menschen auf der Suche nach ehrlichem Kontakt. Und ich wünsche mir einen natürlichen, würdevollen und vor allem auch bewussten Umgang mit körperlicher Nähe, Berührung und Sexualität. Natürlich ist Sexualität eine sehr intime Form von Kontakt mit uns selbst (und anderen): Ich berühre den Körper ganz real und beziehe dabei auch den Genitalbereich auf Wunsch mit ein – als eine von vielen Möglichkeiten, achtsame Berührung zu spüren, in (Selbst)Kontakt zu sein und Neues zu lernen.

Denn bin ich als Mutter nicht in der Lage, gemeinsam mit meinem Säugling den Bereich der Sexualität zu erkunden, kommuniziere ich dem Körper des Kindes meine eigene sexuelle Ambivalenz – die Teil seines unbewussten Wissens wird. Auch als Körpertherapeutin tue ich meinen KlientInnen keinen Gefallen, wenn ich den Blick, meinen Geist, meine Sprache und Aufmerksamkeit von ihrer Sexualität abwende. Und doch tun viele Formen der Psycho- und Körpertherapie sowie der Seelsorge genau das.

In meiner Arbeit geht es letztlich darum, über Körperlichkeit und Sexualität nicht nur zu reden, sondern auch zu erleben und zu spüren. Was körperlich erlebt wurde, kann viel nachhaltiger verinnerlicht und in den Alltag integriert – oder überhaupt erst verstanden werden. Oft nützt alles Erklären, Erzählen und Ermutigen nichts, wenn es nicht in achtsamer, geschützter Atmosphäre von konkretem körperlichen Erleben begleitet wird. Und gerade weil viele Menschen Berührung als Kind schmerzhaft vermisst haben oder erleiden mussten, gerade weil Sexualität oft nur mehr im Kopf, in der Fantasie oder digital stattfindet und so mancher Intimität noch nie geteilt hat, ist es für mich ganz klar, dass ich neben Beratung und Gespräch auch Berührung anbiete.

Ich kann das nur tun, weil ich mich reflektiert habe und immer wieder bereit bin, es zu tun. Denn therapeutisches Berühren ist kein „Alltagshandeln“ wie mein Handschlag oder eine freundliche Umarmung. Es kann nur auf der Basis eigener körperbezogener Therapie und Selbsterfahrung angeeignet werden. Und professionell – in Aus- und Fortbildungen immer wieder geübt – ist dabei vor allem meine Haltung: Gleichzeitig offen und ganz bei mir, nehme ich meine Gefühle, Energien und Grenzen sehr klar wahr. Auch und gerade deshalb ist es mir möglich, die Grenzen anderer zu achten: Ich kann Nähe von Distanzlosigkeit unterscheiden und Frauen und Männern dadurch neue Räume für ihr Vertrauen öffnen.

„Folge Deinem Herzen, auch wenn es Dich vom Pfade ängstlicher Seelen wegführt,“ forderte der österreichische Sexualforscher Wilhelm Reich: Ich betrachte die Fähigkeit, mein Kind (in mir) liebevoll zu berühren und als Erwachsene verletzlich und berührbar zu bleiben als Teil einer partnerschaftlichen Kultur, in der Frauen und Männer mit ihren Herzen, Abgründen und mit den Quellen ihrer Kraft verbunden sind und ihre kollektiven Schmerzkörper geheilt haben – damit wir uns in Liebe und auf einer neuen Ebene begegnen können.

Das Seminar „Berühren und berührbar Sein“ (16. – 17.2. 2013, Wien) bietet einen gemeinsamen Erfahrungsraum und im Anschluss daran die Möglichkeit, Berührung am monatlichen Jour Fixe (jeden 1. Di im Monat / 19-22 Uhr) weiter zu erforschen und zu genießen. Im Seminar erfolgt die Berührung über Kleidung. Fokus ist das taktile Nachnähren des Kindes in Deinem Inneren als wichtige Voraussetzung für eine erwachsene Sexualität, die ein Geben und Nehmen braucht und natürlich auch die Fähigkeit, Grenzen zu spüren und zu kommunizieren.

Mag. Atma Pöschl (Jg. 1970) ist Trainerin und Coach für Körpersensibilisierung. Ihre Einzelarbeit und Seminare sind Lehrstunden, in denen der Körper als Tür zur Selbsterkenntnis, zur Lust und Stille erfahren werden kann. Internationale Lehrtätigkeit.

 mailto: info@institut-atma.at

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