Wahlverwandtschaften

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Stadt oder Land? Keines von beiden. Gemeinschaftswohnprojekte sind die Zukunft und die Zukunft der Gemeinschaftswohnprojekte sind vielleicht „Liebesdörfer“. Es zeigt sich die Sehnsucht nach neuen Formen des Miteinander.

„Das 20. Jahrhundert war das Jahr-hundert des Wachstums, das 21. wird das Jahrhundert des Schrumpfens“, sagt Reiner Klingholz, Deutschlands bekanntester Experte für demografische Fragen. Für Europa wird das wohl gelten, denn hier schrumpfen Wirtschaft und Bevölkerung. Bis 2050 erwartet allein Deutschland einen Rückgang der Bevölkerung um 12 Millionen Menschen. Trotz Zuwanderung. Die Bevölkerungszahl geht zurück und zu- gleich sammeln sich die Menschen in den Städten. Die Städte also wachsen.

2007 war das Wendejahr. Erstmals lebten mehr Menschen in Städten als am Land. Im 19. Jahrhundert war London noch die einzige Stadt weltweit mit mehr als 5 Millionen Menschen. Heute gibt es über 54 Megacities, die meisten davon im asiatischen Raum. Für viele Raumplaner und Politiker ist das nicht beängstigend, sondern der einzige Hoffnungsschimmer. „Es gibt keine armen urbanen Länder, so wie es keine reichen Länder gibt, die von Landwirtschaft geprägt sind“, schwärmt der Harvard-Wissenschaftler Edward Glaeser. Nur die Stadt könne das weltweite Bevölkerungswachstum gut aufnehmen. Die Stadt wird sozusagen als effizientester Stapelplatz für Menschen angesehen. Keine Technologie – auch nicht Telefon oder Internet – würde Menschen so produktiv vernetzen wie ein urbaner Lebensraum. Der fehlende Raum reduziere die Transportkosten.

Klingholz hat einen differenzierten Blick auf dieses Phänomen: „Die Landbewohner in armen Ländern sind biologische Solarmobile. Sie sind CO2-neutral, leben von dem was da wächst. In der Stadt werden sie zu CO2-Emittenten. Das ist die Krux beim Bevölkerungswachstum: wir erkaufen uns die Abnahme des Bevölkerungsdrucks mit der Verschärfung des Klimaproblems.“

Ganze Dörfer in Spanien, Norditalien und Ostdeutschland stehen leer. In Ostdeutschland sind wieder Wolfsrudel gesichtet worden, die Natur erobert das Land vom Menschen zurück. Wenn man diese Räume besiedeln wollte, brauchte man Zuwanderer. Aber die gehen in die Städte, wo schon andere Migranten leben. „Wollten wir die Lücken füllen, bräuchten wir eine Peuplisierungspolitik, wie sie Katharina die Große und der Alte Fritz betrieben haben. Doch derzeit geht keine Tür auf für die Idee: wir haben jetzt Platz, wie holen 50.000 Nepalesen.“ (Klingholz)

Es gibt genug Menschen, die das Land als seelenvolles Refugium beschwören. Dahinter steht meist ein sozialromantischer Blickwinkel, dem die Realität zersiedelter Dörfer nicht standhält. Die Dorfzentren verwaisen, Häuser stehen leer und verfallen, während an den Dorfrändern Wochenendhäuser anwachsen, die zumeist ebenfalls leer stehen.

Daher gibt es Leute, die weder in den Megacities noch in der Zwangsgemeinschaft eines herkömmlichen Dorfes leben wollen. Zudem macht auch der Zerfall der Familie Druck und Sehnsucht auf neue Formen gedeihlichen Miteinanders. Kleinkinder spielen „Vater-Mutter-Kind“, als Erwachsene entsagen sie diesem Zustand. Die klassische Familie, zumal in der patriarchalen Ausprägung, zerfällt. Beim Treue-Versprechen neigt man heute zunehmend dazu, zuerst einmal sich selber treu zu sein, und gerät dabei in Spannung mit konservativen Heile-Welt-Bildern.

So geht es also nunmehr darum, die Familien aktiv neu zu gründen. Die Blutsverwandtschaft kann man sich bekanntlich nicht aussuchen, wohl aber die Seelenverwandtschaft. In über 30.000 Gemeinschaftswohnprojekten weltweit haben sich Menschen mit Interessensgleichklang zusammengefunden. Sie haben sich in eine Sozietät eingewählt, von der sie sich ein nährendes Miteinander und Sinnhaftigkeit erhoffen. Allen Gemeinschaftswohnprojekten gemeinsam ist die Suche nach einem nachhaltigen Lebensstil. In „Sieben Linden“ in Deutschland etwa wohnt man in Strohballenhäusern und nutzt Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen gemeinsam. So kommt es, dass die Sieben Lindener einen signifikant kleineren Ökologischen Fußabdruck haben als andere Deutsche. Und Konflikte löst man mit Diskussion und Konsensverfahren. „Wir brauchen Räume für Kommunikation und keine Gesetzesfluten“, wie es der Bewohner eines Gemeinschaftswohnprojektes

einmal auf den Punkt gebracht hat. Die Menschen holen sich ihre Eigenverantwortung zurück und wollen der Bevormundungspolitik der westlichen Demokratien entgehen. Sieben Linden, Zegg, Tamera, Damanhur, …! Klingende Namen, die sogar schon die feine Patina von Tradition an sich haben.

„Wir in Europa müssen begreifen, dass wir die Vorreiter des demografischen Wandels sind und diese Pionierrolle annehmen. Auf das, was wir hier entwickeln, wartet die ganze Welt.“, insistiert Klingholz. Europa mit seinen fast 50 Staaten sieht er als Labor für soziale Innovationen. „China und die USA sind Monolithen; wir können aus unserer Vielfalt lernen.“

Die Fähigkeit, aus der Vielfalt zu lernen, könnte demnächst in Wien befördert werden, wo im Dezember 2012 ein Symposion zum Thema „Liebesdörfer“ stattfinden wird. Liebesdörfer? – eine gewagte Formulierung. In unserer gedanklichen Prägung riecht das nach Sekte oder Kommune. Dabei geht es den Initiatoren darum, in einem Umfeld leben zu wollen, wo die Liebe als Essenz der Welt verstanden wird. Der Mensch möge aufhören, sich die Welt untertan machen zu wollen. Die „Liebe“ wird nun bewusst aus dem Kämmerchen des scheinbar ganz Privaten geholt und als Lebensprinzip öffentlich gemacht. Befreite Liebe statt freier Liebe also. Ziel der neuen Wahlverwandtschaften ist die Aufhebung trennender Gegensätze: Stadt und Land, Mann und Frau, Alt und Jung im Miteinander. „Das Wahre ist das Ganze“, wie Hegel gemeint hat.

Symposion „Liebesdörfer“

21.-23. Dez. 2012

Wien, Hotel Karolinenhof

bei Interesse Mail an: wirks@wirks.at

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