Lieben statt begreifen

Der Artikel ist auch als druckfreundliches PDF erhältlich

Die Erkenntnisse der avancierten Physik fordern dazu auf, die Wirklichkeit in einem neuen Licht zu sehen. Wir werden der Welt nicht gerecht, wenn wir sie analytisch zergliedern, sondern wenn wir sie als ein Ganzes verstehen, in dem alles mit allem verbunden ist, sagt der Physiker Hans-Peter Dürr. Interview: Christoph Quarch, Foto: Martin von Mallinckrodt; den vollständigen Text lesen Sie im Magazin „WIR“ (wir-menschen-im-wandel.de)

Herr Dürr, wie wenige andere haben Sie in den vergangenen 50 Jahren die Entwicklung der theoretischen Physik aus nächster Nähe verfolgt. Was ist für Sie die folgenreichste Erkenntnis, die Ihre Wissenschaft zutage gefördert hat?

Die wohl bahnbrechendste Erkenntnis der neueren Physik liegt darin, dass wir nicht länger die Materie als Grundbaustein des Universum betrachten können. Ja, wir wissen heute, dass es auch nicht Energie ist, was der Welt zugrunde liegt, denn Energie ist bei Lichte besehen nichts anderes als »verdünnte Materie«, während Materie so etwas wie »zerknüllte Energie« ist. Nein, was die Welt im Innersten zusammenhält, ist ihre Beziehungsstruktur. Und diese Beziehungsstruktur ist weder materiell noch energetisch erzeugt, sondern sie besteht von Anfang an.

Am Anfang war die Beziehung?

So könnte man sagen. Wobei es merkwürdig ist, dass die Beziehung ursprünglicher ist als dasjenige, was in Beziehung zueinander steht. Und doch verhält es sich genau so. Wenn wir uns fragen, wie sich die Beziehung verstehen lässt, in der Sie und ich zueinander stehen, dann hätte man in der alten Physik darauf verwiesen, dass wir uns im gleichen Raum befinden und uns in einer messbaren Entfernung zueinander befinden. Aber damit wäre nichts erklärt. Wenn wir uns hingegen von dieser Sicht frei machen und uns in einer anderen Dimension bewegen, in der wir mit einem Blick das Ganze sehen und – ohne es begreifen zu können – erfahren, dass wir nie getrennt sind, dann kommen wir der Realität sehr viel näher. Nur erfordert das eine ganz andere Weise, sich zur Welt zu verhalten: eher tastend und spürend.

Das erinnert tatsächlich an die Situation eines Dialoges, bei dem es ja auch nicht darum geht, den anderen begreifen und erklären zu wollen, sondern ihn in einer Mischung aus Intuition, Gefühl und Kognition zu verstehen.

Ja, und deswegen meine ich, dass wir nicht länger auf das Begreifen fixiert sein sollten; sondern stattdessen lernen müssen, eine wissenschaftliche Sichtweise auszuprägen, die es uns erlaubt, mit einem Blick das Ganze zu erschließen.

Die alte Welt hatte für dieses Ganze den Begriff »Kosmos« – wobei der Kosmos als ein komplexes Lebewesen galt und nicht – wie es die neuzeitliche, Newton’sche Physik lehrt – als Anhäufung von partikularer Materie.

Und mir scheint, dass das antike Weltbild der Realität näher kam. Denn sehen Sie: Dadurch, dass wir die Dinge vereinzeln und nicht mehr in ihrer Verbundenheit sehen, vereinfachen und verfälschen wir die Wirklichkeit. Man kann sich die Wissenschaft vielleicht vorstellen wie ein Orchester, sagen wir: ein Streichorchester. In diesem Orchester hat man sich – vielleicht sogar unausgesprochen – darauf verständigt, aus dem unendlichen Meer der Töne in einer bestimmten Klangfarbe bestimmte Klänge und Melodien zu schöpfen; und das dann als »die Musik« zu deklarieren. Nun kommt aber eines Tages eine Flöte dazu, die ganz anders klingt. Einige Streicher stören sich daran, andere aber erkennen, dass die besondere Klangfarbe der Flöte an manchen Stellen stimmiger und treffender klingt. Daraus kann sich dann eine ganz neue Form der Musik entwickeln, die alle befriedigt – und die am Ende sogar »die Musik« umfassender und stimmiger erklingen lässt als es zuvor war.

Das scheint mir – unabhängig vom Wissenschaftsbetrieb – ein gutes Bild für den Umgang mit Krisen: ein System wird gestört oder irritiert, integriert dann aber den Störer und wird dadurch zuletzt bereichert und verbessert.

Ähnliches erleben wir bei Krankheiten. Infektionen verbessern das Immunsystem. Störungen fördern die Kreativität – und zwar die Kreativität, sich auf einer höheren Ebene in eine neue, wahrscheinlich stabilere Harmonie des Organismus zu fügen. Das ist in der Tat ein Grundprinzip des Lebens, das wir nicht nur in unserem Organismus und nicht nur bei Orchestern beobachten können, sondern das die ganze Natur durchwirkt. Ja, die ganze Evolution folgt der Logik der Integration als Antwort auf Störungen, Infektionen oder Irritationen. Wobei wir uns dessen bewusst sein sollten, dass ein Heilungsprozess immer länger dauert als die Infektion – einfach, weil sich der ganze Organismus, das ganze System, alle Beteiligten ein Stück weit ändern müssen, um aus der Irritation Integration werden zu lassen und eine neue Balance herzustellen.

Dafür ist ein hohes Maß an Intelligenz vonnöten. Wer sorgt eigentlich in der Natur dafür, dass diese Harmonisierung, Ausbalancierung, Heilung stattfinden kann?

In der Physik sprechen wir davon, dass sich solche Prozesse »instantan« ereignen. Es gibt nicht die eine Ursache, sondern gleichzeitig wird überall damit angefangen, das gestörte System in Balance zu bringen. Es scheint, als ob alle »Beteiligten« gleichzeitig das Signal zum Aufbruch erhielten, aber da ist niemand, der dieses Signal gibt. Es ist einfach da – ein Zusammenspiel ohne Zeitverlust. Die Frage ist, wie solche Prozesse in Gang gesetzt werden können. Entscheidend ist in meinen Augen dafür, dass hier und dort, immer wieder zwei oder drei Teilsysteme – in unserem Falle Menschen – miteinander in Kommunikation treten, sich verständigen, sich auf eine gemeinsame Sprache einigen. Und das immer wieder. So schreibt sich gleichsam von allein ein neuer Text, eine neue Sicht der Welt – und sie schreibt sich so, dass sie für alle – nicht nur für diejenigen, die an ihrer Entstehung beteiligt waren – verständlich und einleuchtend ist. Sie stimmt.

Was aber kein Einzelner macht, sondern sich augenblicks ereignet …

… sich augenblicks als etwas Neues aus dem Meer der Möglichkeiten herausbildet – eine neue Struktur, eine neue Ganzheit, in der dieser große Zusammenhang, der im Hintergrund immer vorhanden ist, aufscheint. Das ist aber nur für diejenigen sichtbar, die das Ganze in seiner Ganzheit verstehen können.

Das müssen Sie mir erklären.

Es ist wie bei einem Gemälde. Sie können die Harmonie und Stimmigkeit eines Gemäldes nur wahrnehmen, wenn Sie es gerade nicht in seine Einzelteile zerlegen und zergliedern; wenn Sie es nicht analysieren; wenn Sie ihm nicht mit Ihrem Verstand zu Leibe rücken. Es geht um einen Blick, der nicht zerstückelt, sondern die Schönheit des Ganzen erkennt.

Womit sich der Kreis unseres Gespräches schließt, denn jetzt sind wir wieder bei dem Modell des Verstehens gelandet, das Sie der herkömmlichen wissenschaftlichen Methodik des Begreifens entgegensetzen.

Weil wir uns der Welt und uns selbst eben gar nicht anders gerecht werden können, als durch ein solches empathisches, ja liebevolles Verstehen. Wir sollten nicht das kühle Begreifen oder Erfassen zum Leitbild des Verstehens machen, sondern das ahnende, tastende Sich-Verlieben, mit dem wir uns einem anderen in seiner Ganzheit zuwenden; ohne nach dessen Bedeutung oder Nutzen zu fragen.

Wird die Wissenschaft der Zukunft eine Sprache des Herzens sprechen müssen? Wird sie eine Wissenschaft der Liebe sein?

Aber ja. Die Liebe entspricht – nach allem was wir wissen – dem Universum viel besser als unser Verstand. Denn sie folgt einer Logik des »Sowohl-als-auch«, während der Verstand die Logik des »Entweder-oder« bevorzugt. Das »Entweder-oder« existiert aber nur an der Oberfläche der Welt. In ihrer Tiefe ist sie ein Sowohl-als-auch. In der Natur gibt es Hunderte Millionen verschiedener Arten. Alles existiert gleichzeitig. Alles freut sich an der Fülle des Lebens. Weil sie es ist, die Integration und Evolution zuallererst möglich macht. In dieser gigantischen Fülle des Universums manifestiert sich, könnte man sagen, der Hintergrund, in dem alles mit allem verbunden ist; aus dem immer neue Verwirklichungen hervorgehen können und in den alles Gewesene und Seiende als Information zurückfließt. Die Idee eines qualitativ wachsenden Universums ist mir sehr viel sympathischer als die Vorstellung vom Urknall, bei dem alle Kreativität gleichsam verpufft und zuletzt im universellen Wärmetod aufgezehrt ist. Vielleicht ist es ja wahr, dass die Wirklichkeit eine Frau ist, die erst dann glaubt, wie schön sie ist, wenn sie sich im Spiegel selbst gesehen hat.

Ihre Deutung der Welt als eines innerlich wachsenden, intelligenten Lebewesens scheint mir dazu einzuladen, die Gegenwart nicht als eine Zeit der Krise, sondern als eine Zeit des Aufbruchs, des Aufbrechens zu deuten.

Die Physik mahnt uns zur Bescheidenheit. Es gibt keine starren Gesetze. Es gibt Möglichkeiten, und die sollten wir auf sinnvolle Weise nutzen. Wir müssen dafür nicht bei null anfangen. Wir wissen eigentlich längst, wie wir zu leben hätten – nur müssen wir uns immer wieder daran erinnern. Die Evolution kommt nur voran, wenn wir miteinander kommunizieren und experimentieren.

Hans-Peter Dürr (*1929) ist der große alte Mann der Physik in Deutschland. Als ehemaliger Direktor des Münchener Max-Planck-Instituts für Physik und früherer Mitarbeiter von Werner Heisenberg verfügt er nicht nur über eine stupende Kenntnis der zeitgenössischen Wissenschaft, sondern hat immer auch über den Tellerrand geblickt. 1985 wurde er mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet. Außerdem erhielt die wissenschafts- und forschungskritische internationale Gruppe Pugwash, der er angehört, im Jahr 1995 den Friedensnobelpreis.

Das gesamte Interview finden Sie im Magazin „WIR“ – http://www.wir-menschen-im-wandel.de/

Keine Kommentare möglich.