Heute fängt die Zukunft an

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Otto Scharmer legt weltweit Keime für eine neue Gesellschaft. Seine Vision ist eine Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft auf der Basis einer neuen Achtsamkeit. Text: Jens Heisterkamp (der Artikel ist im Magazin WIR – www.wir-menschen-im-wandel.de – erschienen)

Otto Scharmer erzählt gern die Geschichte von den vier unwahrscheinlichen Ereignissen, deren Zeugen wir in den letzten 25 Jahren geworden sind: Der Fall der Berliner Mauer, der Sturz des Apartheid-Systems in Südafrika, der Aufstieg Asiens zum neuen Gravitationszentrum der Welt-wirtschaft und die Amtsübernahme eines farbigen Präsidenten in den USA – vier umwälzende Mirakel, die niemand im Vorhinein erwartet hatte und die auf unterschiedliche Weise gezeigt haben, dass das gänzlich Unerwartete doch möglich ist: »Ganz plötzlich haben wir gesehen, wie sich tektonische Platten verschieben«, sagt Scharmer, »und etwas zuvor nicht für möglich Gehaltenes ist eingetreten. Das fünfte und vielleicht wichtigste ›unwahrscheinlich Ereignis‹ in unserer Generation wird nach meinem Gefühl die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft sein!« Für diese Vision einer globalen, nachhaltigen und achtsamen Zivilisation ist der heute in den USA lebende Otto Scharmer seit Jahren unterwegs – meist mit dem Flugzeug. Als wir ihn für ein Gespräch am Frankfurter Flughafen treffen, befindet er sich wieder einmal in einem Transit zwischen spannenden Terminen: In den Niederlanden hat er ein »Gesundheits-Labor« geleitet, anschließend war er mit seinem Team in Berlin beim 50-jährigen Jubiläum des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) engagiert – eine Veranstaltung, deren Teilnehmerschaft von Weltbankpräsident Robert Zoellick bis zu Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus reichte. Bevor er nach Indonesien zu einem Treffen mit NGOs, Unternehmern und Politikern zur Bekämpfung von Korruption weiterfliegt, finden wir am Frankfurter Flughafen Zeit für eine Begegnung in der Lobby des Sheraton-Hotels.

»Ich habe das Gefühl, wir leben gegenwärtig in einem sozialen Feld, wo viel Altes stirbt und Neues geboren werden will. Wir können das Sterben des Alten jeden Tag in der Zeitung besichtigen. Aber wo finden wir die Landeplätze des Neuen? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir eine Landebahn für die entstehende Zukunft schaffen müssen – oder gleich ein ganzes Feld von über die Erde verteilten Landebahnen«, sagt Scharmer. Dass wir global an der Schwelle einer neuen Zivilisation stehen, davon ist er überzeugt. Ihre Manifestation muss aber nicht eine Frage blinder geschichtlicher Mechanismen sein – wir können bewusst daran mitwirken, das Neue auf die Erde zu holen, ist er sicher. Und woher holen wir das Neue? »Aus der Zukunft!«, lautet seine Antwort. Wenn er mit unüberhörbar norddeutschem Akzent die Lage auf unserem Globus skizziert, dann schaut aus seinen stets etwas zusammengekniffenen Augen der Blick des kühlen Analytikers, der große Zusammenhänge überblicken will. Immer wieder stechen Anglizismen und einprägsame Formeln aus seinen Ausführungen hervor – kein Zweifel, hier redet jemand, der es gewohnt ist, mit Wirtschaftsführern und internationalen Entscheidungsträgern zu arbeiten, die eine kompakte Sprache bevorzugen. Wie aber können wir uns für das Wirklichwerden dieser Zukunft öffnen, wenn unser Denken offenkundig immer schon und immer noch aus der Vergangenheit bestimmt ist? »Es geht vor allem darum, gewohnte Wahrnehmungsformen aufzubrechen – raus aus der eigenen Sicht und rein in die Sicht der anderen,« erläutert Scharmer. Zu nachhaltiger gesellschaftlicher Veränderung gehört für ihn die Veränderung des Bewusstseins. Hier liegt das Besondere an seinem Ansatz darin, dass er Elemente einbezieht, die wir sonst eher aus der Praxis des »Inneren Wachstums« oder von spirituellen Entwicklungswegen kennen. Scharmers Arbeit beginnt immer damit, die Teilnehmer anzuregen, sich des üblichen – aber selten hilfreichen – Modus des »Downloadens« von Gewohnheitswissen bewusst zu werden und diesen Strom abzustellen. »Das Neue kommt nicht aus den bestehenden Strukturen, sondern immer aus der Peripherie.« Bereits Gewusstes soll losgelassen werden und eine schrittweise Öffnung für einen Zustand der Leere eintreten, aus dem das Neue hervorgehen kann.

Seine Grundtechnik, um das Neue in die Gegenwart zu locken, hat Otto Scharmer »Presencing« genannt – eine Wort-Neuschöpfung, in der die englischen Worte für »spüren« und »hervorlocken« mit »Gegenwärtigung« verschmelzen. »Sensing bedeutet dabei für mich vor allem eine Beobachtung zweiter Ordnung: zu beobachten, dass man und wie man beobachtet«, erläutert Scharmer. Durch diese Selbst-Beobachtung kann für die potenziell Betroffenen auch deutlich werden, wie sie selbst in einem jeweiligen Kontext wirken und dass sie ihre eigenen Probleme möglicherweise mit hervorbringen. Sensing in diesem Sinne meint somit auch die Chance, eine oft stattfindende, distanzierende Projektion von Problemen »außerhalb« des eigenen Selbst zu überwinden. Beobachten, wahrnehmen, nicht bewerten – daraus besteht die erste Phase des Prozesses. Dann folgt ein weiteres ungewöhnliches Hilfsmittel im Werkzeugkasten des Aktionsforschers: die Konfrontation mit dem Moment der Leere, durch die der Weg zum Neuen hindurchführen muss, das Horchen in die Stille hinein, aus der heraus das Noch-nicht-Manifestierte aufscheint. Die Leere – auch dies ein Element, das uns eher von spirituellen Entwicklungswegen her bekannt ist. Für Scharmer bedeutet Leere aber nicht ein Verweilen in der Formlosigkeit des Nichts, sondern das befreiende, von Vorurteilen aller Art sich lösende Hindurchgehen durch einen Null-Punkt des Nicht-Wissens. Hier wird dann die Berührung mit einer unerschöpflichen Quelle möglich, aus der das Neue hervorgehen kann. Dieses bewusste, stufenweise Abstreifen des Schon-Gewussten ist notwendig, um gezielt einen Raum der Intuition zu kultivieren, der sich sonst nur zufällig zeigt. Schließlich kommt im dritten Schritt des Prozesses die Aufgabe, aus dem, was als Funke von der Zukunft erhascht werden konnte – eine neue Idee, eine Vision, ein Ziel, zu dem es uns hinzieht –, unmittelbar etwas zu machen. Es soll ein Modell, ein Prototyp skizziert – und die Phantasie mobilisiert werden, um das Neue im Handeln gleich konkret zu erforschen. »Denn das ist extrem wichtig: dass wir erst im konkreten Handeln das Neue wirklich verstehen«, erläutert Scharmer.

Diesen Entwicklungsprozess von der Loslösung des Alten zum schrittweisen Verwirklichen des Neuen hat Scharmer in der grafischen Form des Buchstaben »U« veranschaulicht: Dessen Linienführung führt über das stufenweise Ablegen bestehender Gewohnheiten zu einem Tief- und Nullpunkt, um auf der gegenüberliegenden Seite in entsprechenden Stufen bewusst wieder aufzubauen, was der Zukunft zur Manifestierung verhilft. »Theorie U. Von der Zukunft her führen« lautet auch der Titel seines Buches, in dem die Grundlagen dieser Methode zusammengefasst sind. Scharmer hat darin drei Kernkompetenzen von Führung formuliert, die sich allerdings weniger als Management-Anweisungen, sondern mehr wie monastische Regeln lesen: »Offener Geist, offenes Herz und offener Wille« lauten für ihn die drei Schlüssel zum zukunftsfähigen Handeln. Der »offene Geist« meint dabei vor allem die Fähigkeit, alte Denkgewohnheiten abzustreifen; das offene Herz die Fähigkeit der Empathie, eine Situation aus der Perspektive eines anderen sehen zu können; und der offene Wille meint schlicht die Bereitschaft, alte Wege loszulassen und neue zu akzeptieren. »Ich fasse das in der Formel Loslassen und Kommenlassen zusammen«, so Scharmer. Angesichts solcher Weisheiten wundert es nicht, dass Scharmer auch die Kategorie eines »Höheren Selbst« ins Spiel bringt: »Die beiden Grundfragen aller Führung und systemischen Veränderung lauten: Wer bin ich? und Wozu bin ich hier?, oder neudeutsch: Was ist mein Ding?« Sich die Anwendung solcher Techniken in der Beratungsarbeit mit Führungskräften in Wirtschaft und Politik vorzustellen, fällt etwas schwer. Stößt man da nicht auch auf Ablehnung oder zumindest Befremden? Vor zehn Jahren sei das vereinzelt noch so gewesen, meint Scharmer dazu, aber heute treffe er überall auf eine erstaunlich selbstverständliche Offenheit für diese Elemente.

Kaum jemand, der dem klugen Welt-bürger Scharmer begegnet, wird seine Ursprünge dort vermuten, wo sie tatsächlich liegen: Das Aufwachsen auf einem Bauernhof hat ihn tief geprägt. Und als seine Eltern damals den Betrieb auf die biologisch-dynamische Anbauweise umstellten, machte er bereits eine grundlegende Erfahrung für seine spätere Begleitung von Entwicklungsprozessen: Er bemerkte, wie entscheidend es für das Gelingen eines Wandlungsprozesses ist, das ganze Umfeld – hier waren es Zulieferer, Handel und Direktkunden – mit einzubeziehen. »In der Demeter-Landwirtschaft betrachtet man den ganzen Hof als eine Art Individualität, als zusammenhängendes System, als Gemeinschaft aller Pflanzen, Tiere und Menschen, die dazugehören. Einen solchen Gemeinschaftscharakter intentional zu kultivieren, das hat mich bis heute begleitet – wo kann in unserer Gegenwart neue Gemeinschaftsfähigkeit herkommen?« In seiner Funktion als Berater ist Otto Scharmer heute ein glühend engagierter Mensch für den Wandel, dem nichts Geringeres vor Augen steht als die Vision einer neuen globalen Gesellschaft: Die Transformation unserer Kultur hin zu einer neuen Form des Kapitalismus, in der Ökonomie und Ökologie, Wirtschaft und Gemeinwohl, Effizienz und Achtsamkeit keine Widersprüche mehr sind. Auf die Idee, das Auftreten des »Neuen« nicht dem Zufall zu überlassen, sondern durch geeignete Bedingungen zu seiner Manifestation »einzuladen«, kam Otto Scharmer im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie am Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo er seit Ende der 80er Jahre arbeitet. Dabei hatte er rund 150 Wirtschaftsführer befragt, welche Faktoren sich bei gelungenen Systemumstellungen als hilfreich erwiesen haben. »Was ich dabei feststellte, war, dass es zwei grundverschiedene Formen des Lernens gibt. Gewöhnlich kennen wir das Lernen aus Vergangenem; was aber wirklich weiterführt, ist eben das Lernen aus der Zukunft!« Die Ergebnis-Extrakte aus den Gesprächen passten gut zu elementaren Lebenserfahrungen Scharmers als Jugendlicher: »Schon als Aktivist in der Friedensbewegung hatte ich erfahren, dass solche Gruppen gefühlsmäßig bereits vom Bild einer möglichen Zukunft bewegt werden, die sich sehr von den bestehenden Bedingungen der Gegenwart unterscheidet.« In der damaligen Friedensbewegung ebenso wie im gegenwärtigen zivilgesellschaftlichen Aufbruch weltweit lebt eine Stimmung, die weit über die jeweils formulierten Ziele hinausgeht – die Ahnung einer menschlicheren Zukunft.

Bei der Eröffnung eines globalen Forums des »Presencing«-Netzwerks im Oktober 2011 hat Scharmer einmal zusammengefasst, auf welche Grundlagen er seine Arbeit baut. Für ihn kommen hier drei Strömungen zusammen, die bisher meist getrennt wirken: Die erste ist die Strömung der Bürgerbewegungen in der Tradition Martin Luther Kings, Mahatma Gandhis und Henry David Thoreaus. Für ihn weitet sich dieser Strom heute in die Breite der globalen Zivilgesellschaft aus. »Das ist die wohl größte Bewegung, die die Welt je gesehen hat«, stellt Scharmer fest. Der zweite Strom ist die systemische Aktionsforschung, speziell in Anknüpfung an Peter Senge, Ed Schein und Kurt Lewin, die in der Lage ist, große gesellschaftliche Vorgänge mit passenden Begriffen zu erfassen. Der dritte Strom schließlich ist jener der Achtsamkeit und Bewusstheit. Dazu gehören für ihn alle großen Weisheitstraditionen wie der Buddhismus und Konfuzianismus mit dem Wissen, dass eine gute Führungskraft an sich selbst arbeiten muss. »Im Westen wird für mich die Tradition der Bewusstheit besonders im Werk Rudolf Steiners repräsentiert, der Achtsamkeit mit der Goethe’schen Phänomenologie zu einer Form von Wissenschaft verband, in der das Bewusstsein sich selbst begegnen kann«, so Scharmer. »Was mich inspiriert ist die Wahrnehmung, dass überall auf der Welt diese Ströme heute mehr und mehr zusammenfinden, ich sehe eine neue Generation am Werk, die gesellschaftliches Engagement, Aktionsforschung und Achtsamkeit verbindet. Und ich sehe meine Aufgabe darin dazu beizutragen, dass für diese Milleniums-Generation, wie man sie nennen kann, Plattformen globalen Lernens entstehen, Räume, in denen diese Qualität gehalten werden und wo tiefere Führungsqualitäten dazu gebildet werden können.«

»Wir müssen von einer Ego-System-Bewusstheit zu einer Öko-System-Bewusstheit kommen« – noch einmal so eine Formel, in der vieles zusammenfließt, was Anliegen Scharmers ist. Denn auch wenn es in seiner konkreten Arbeit immer um einzelne Projekte, Unternehmen oder Organisationen geht, steht als Ganzes dahinter doch immer die Vision eines Sprungs der globalen Gesellschaft auf ein vollständig neues »Level«. »Wir gehen so verschwenderisch mit unseren Ressourcen um, als hätten wir mehr als nur einen Planeten zur Verfügung«, mahnte Scharmer etwa die Anwesenden beim Forum zum 50. Jubiläum des Bundesministeriums für Entwicklung (BMZ) in Berlin. Dass es um den Planeten so schlecht bestellt ist wie im Moment, ist für ihn weniger Ergebnis böser Absichten als vielmehr von fehlendem Bewusstsein. Dabei ist das Neue bereits an vielen Stellen greifbar nah und – siehe die vier »Mirakel« zu Beginn dieses Artikels – geschichtlich gesehen ohnehin unausweichlich. »Kapitalismus 3.0« nennt Scharmer die im Keim bereits sichtbare, neue Zeit. Hintergrund seiner Überlegungen ist dabei die Einteilung des Kapitalismus in drei aufeinanderfolgende Entwicklungsstufen: Die erste davon war im 19. Jahrhundert durch die ungezügelte Entfaltung wirtschaftlicher Aktivitäten einiger weniger gekennzeichnet. Sie setzte eine enorme ökonomische Entwicklung frei, verursachte aber auch schwere Schäden wie Massenverarmung und ökologischen Raubbau. Die negativen Folgen dieses »Kapitalismus 1.0« wurden im »Kapitalismus 2.0« durch Einflüsse wie Gewerkschaften, Sozialgesetzgebung, Notenbanken und erste ökologische Maßnahmen gemindert. Den entscheidenden Schritt zur künftigen Stufe des »Kapitalismus 3.0« bildet die Überwindung der seither entstandenen »Versäulung« unserer Gesellschaft in fest formierte Interessengruppen. An ihre Stelle tritt die horizontale »Vernetzung«, der Schritt von den Sonderinteressen zum Allgemeinwohl im Sinne eines global erweiterten, nachhaltigen und Sinn-orientierten Denkens – Öko-Bewusstsein anstelle von Ego-Bewusstsein. Wie aber kann der Übergang genau aussehen? Für den Weg zu der neuen Stufe verwendet Otto Scharmer ein Bild aus der Computertechnik: Aus dem Umgang mit Software wissen wir, dass ein Programm immer wieder neuen Entwicklungen angepasst werden muss, um mit dem Fortschritt und der Differenzierung von Anforderungen Schritt zu halten. Wir sprechen dann beim Wechsel von einer veralteten Version zu einer neuen von einem »Update«. Dabei muss weder das alte System zusammenbrechen noch müssen bisherige Arbeitsabläufe unterbrochen werden, vielmehr kann der laufende Betrieb nach erfolgter Umstellung auf einer verbesserten Stufe reibungslos weitergehen. So etwa stellt es sich Scharmer auch in Bezug auf die »Software« unseres gesellschaftlichen Denkens vor: Durch Einfügung grundlegend neuer Ideen könnten die ins Stocken geratenen sozialen Lebensströme wieder zum Fließen gebracht werden.

Zu den wichtigsten dieser neuen Konzepte gehört für ihn dabei ein transparentes, der Realwirtschaft dienendes Geldwesen. Und da so vieles, was heute falsch läuft, an einem falschen Umgang mit Geld liegt, sind davon größte Wirkungen zu erwarten. Vieles, was heute schon von den neuen Ethik-Banken geleistet wird, weise in die richtige Richtung: Geld nicht als Mittel zur Spekulation und Selbst-Vermehrung zu verwenden, sondern zur Ermöglichung sozial und ökologisch sinnvoller Unternehmungen. Außerdem plädiert Scharmer für die Einführung eines Grundeinkommens und die Sicherung von Bildung und medizinischer Grundversorgung – auch dies wären Basis-Stimulationen mit weitestgehender Wirkung, Ermöglichung von Initiative statt kontrollierender Sozialfürsorge. Als elementaren Bestandteil des globalen Wandels sieht er ebenfalls die Re-Aktivierung unserer Gemeingüter, das heißt etwa die Befreiung von Grund und Boden oder Wasser und auch von Energie aus den Klauen privatwirtschaftlicher Einzelinteressen. Kritik der Finanzwirtschaft, Grundeinkommen, Gemeingüter – Scharmers Idee einer gesellschaftlichen Transformation bündelt so Motive, die sonst politisch eher einzeln verfolgt werden, zu einem System-»Update«: »Wir haben heute die unterschiedlichsten Spezialkonferenzen und NGOs für jedes dieser Ziele, aber was fehlt, ist eine strategische Koordination und Kopplung«, kritisiert Scharmer. Deshalb betrifft sein letzter Systempunkt den Aufbau von Bildungs-Orten, an denen vor allem Bewusstsein für den großen Zusammenhang geschaffen werden und Vernetzung stattfinden kann. »Wir brauchen schon jetzt funktionierende Modelle für die Post-Crash-Welt, auf die wir zulaufen, neue soziale Technologien und erprobte Beispiele. Dazu müssen wir Kommunikations- und Willensbildungs-Räume schaffen, wo eine gemeinsame Gefäßbildung für das Neue stattfindet. Innovationen kommen nicht durch Theorien in die Welt, sondern durch konkrete Menschen an ganz bestimmten Orten – und wir brauchen mehr solcher Orte, wo das Neue ankünftig werden kann.«

Claus Otto Scharmer wuchs auf einem Demeter-Bauernhof in der Nähe von Hamburg auf. Prägende Erfahrungen machte er als Jugendlicher in den Aktionen gegen das Atomkraftwerk Brockdorf und in der Friedensbewegung. Nach dem Besuch einer Waldorfschule und seinem Zivildienst und Studienbeginn in Berlin ging er 1984 an die Universität Witten-Herdecke und studierte dort im allerersten Jahrgang Wirtschaftswissenschaften. Noch während seiner Promotion wechselte er in die USA und arbeitete am Massachusetts Institute of Technologie (MIT), wo er u.a. bei Peter Senge in das Prinzip der »Lernenden Organisation« eingeführt wurde. Zu seinen wichtigsten Ideengebern zählt er Johan Galtung, Ed Schein, Arthur Zajonc, Nicanor Perlas und Ken Wilber. Otto Scharmer berät im Rahmen seiner Tätigkeit als Senior Lecturer am MIT und als Präsident des Presencing Institutes weltweit Einrichtungen aus Wirtschaft, Gesundheit, Erziehung und kommunalen Verwaltungen. Zu dem von ihm gegründeten Presencing-Netzwerk gehören inzwischen sechstausend Individuen und Einrichtungen auf allen Kontinenten. Otto Scharmer lebt mit seiner Familie in der Nähe von Boston.

www.blog.ottoscharmer.com
www.presencing.com

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