Editorial

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Das individuelle Glück ist asozial. Es braucht Mut es zuzulassen. Editorial von Harald Koisser

„Wir haben beschlossen, uns eine Zeit lang beim Wachsen zu helfen“, sagte Birgit und schmiegte sich in den Arm ihres Gefährten. Schöner und kürzer habe ich den Sinn einer Partnerschaft noch nie gehört. Einander beim Wachsen helfen, einander fördern. Jede Pflanze und jedes Lebewesen kann nur gut gedeihen, wenn es sich in einem nährenden Umfeld befindet. So wie Pflanzen Wasser, Sonne und gute Erde brauchen, benötigen wir Menschen Liebe, Gemeinschaft, Zuspruch. Wir haben ein Grundrecht auf solch pfleglichen Umgang.

Ein Grundrecht, das wir allerdings selbst kaum einlösen. So viele Menschen bleiben freiwillig in nährstoffarmen Konstellationen. Da bekommt man von seinem Job nichts weiter als Geld, von der Partnerschaft kaum mehr als eine warme Mahlzeit und Gefälligkeitssexualität, von der Familie moralische Verpflichtungen und von den Freunden eine Einladung, sich Samstag Abend zu betrinken und anzujammern. Und doch findet man tausend Gründe, warum das Leben als emotionaler Bonsai gut ist.

Ich selbst gehe immer wieder durch massive Veränderungsprozesse und spüre dann, wie diese Angst in mir hochkriecht. Angst vor dem Unbekannten, Angst vor Verlust – auch wenn es der Verlust energieraubender Zustände ist. Das bekannte Elend ist ja stets beliebter als das unbekannte Glück. Ich habe zwar im Moment nichts, das aber dafür ganz sicher. Da weiß ich doch, woran ich bin.

Dann fällt mir aber zum Glück wieder ein, dass wir da sind, um zu wachsen, um schöner und größer zu werden. Mir fällt ein, dass ich Bedürfnisse habe, und dass ich ein verdammtes Recht darauf habe. „Ich weiß, du bist nicht dazu da, meine Bedürfnisse zu befriedigen“, hat mein geliebter Vater einmal wehmütig gemeint, als ich eine Entscheidung getroffen habe, welche die Familienidylle störte.

Organisches Leben ist eine Ressource mit hohem Wert. All unsere Lebenszeit, Kraft und Engagement sind ein in die Welt gesetzter Rohstoff und genau wie um Gold oder Erdöl gibt es auch um menschliche Energie einen Verteilkampf. Wertvolle Ressourcen bleiben niemals ungenutzt. Entweder ich nutze mich und meine Energie bewusst für mich, oder andere nutzen sie. Unser Leben wird immer ausgefüllt sein, das verspreche ich Ihnen, lieber LeserInnen. Die Frage ist nur von wem und von welchen Interessen.

Niemand gibt uns unsere Bedürfnisse, unsere Freiheit, unsere Sexualität, unser Glück, …! Man muss es reklamieren. Das erfordert Mut, mitunter Chuzpe, und der Vorwurf des Egoismus ist sofort präsent. Das individuelle Glück ist stets asozial.

Man würde gerne innerhalb einer Partnerschaft – um bei diesem relativ einfachen System zu bleiben – auch gerne ab und zu alleine sein, zum Stammtisch gehen, etwas nicht gemeinsam erleben, seine Freiheit wahren und Geheimnisse haben – kurzum: asozial handeln. Kann man das auf Dauer nicht durchsetzen, so gewinnt das System, und man selbst verliert seine Autonomie – somit sich selbst.

Setzt man hingegen sein eigenes gutes Leben absolut durch, so stellt man sich außerhalb des Systems. Wer jeden Abend am Stammtisch außer Haus verbringt und ausschließlich auf seine Bedürfnisse pocht, stellt die Partnerschaft in Frage. Hundertprozentige Freiheit und Partnerschaft passen nicht zusammen. Gerald Hüther nennt dies das Grunddilemma des Lebens an sich: dass der Wunsch nach Freiheit und Verbundenheit gleich groß ist. Die Selbstaneignung seines Lebens ist letztlich unabdingbar.

Es ist Frühling und es geht jetzt ums Wachsen. Es ist wirklich sehr an der Zeit, dass wir uns um Wachstum kümmern. Individuelles Wachstum, qualitatives Wachstum! Nicht jenes, das uns jahrzehntelang eingeredet wurde: jenes ewige Wachstum der Wirtschaft, das unseren Wohlstand angeblich sichert. Nichts in der Natur wächst ewig, mit Ausnahme von Krebsgeschwüren, wobei der Ausgang dieses Wachstum bekannt ist. Wir, jede/r einzelne von uns ist aufgerufen, zu wachsen. Helfen wir einander doch dabei.

Zum Beispiel, indem wir endlich aufhören, unseren Baby etwas beibringen zu wollen. Lassen wir es doch einfach. Physiotherapeutin Alexandra Kristl erinnert uns daran, dass wir in unsere Kinder Vertrauen haben dürfen.

Erwin Thoma zeigt uns wie die das Bäume machen. Sie kämpfen um die Sonnenplätze des Lebens und sorgen für den Nachwuchs. „Bäume sind sozial handelnde Wesen“, meint Thoma.

Für Otto Scharmer ist Wachstum nur möglich, wenn wir aufhören, immer wieder Gewohnheitswissen herunter zu beten. „Das Neue kommt nicht aus den bestehenden Strukturen, sondern immer aus der Peripherie.“ Bereits Gewusstes soll losgelassen werden und eine schrittweise Öffnung für einen Zustand der Leere eintreten, aus dem das Neue hervorgehen kann.

Körpertherapeutin Mag. Atma Pöschl habe ich eingeladen, einen regelmäßigen „Kommentar mit Herz & Seele“ für wirks zu schreiben. Sie zeigt, wie Heilung passieren kann, wenn wir körperliche Nähe und Berührung in einem sicheren, klaren Rahmen, mit Bewusstheit und in liebevoller Verbindung mit uns selbst, erfahren können.

Ich wünsche einen kraftvollen Frühling. Schauen Sie auf Ihre zarten Triebe!

PS.: Ein Wort zum Titelbild: dieser Pfefferoni ist so bei mir in einem Blumenkisterl gewachsen. Er hat sich spiralförmig der Sonne (und meinem Chili con carne) zugedreht. In der Natur ist die Spiralform immer und immer wieder zu finden: In Muscheln, Schnecken, dem Fruchtstand von Pflanzen, z.B. Sonnenblumen und den Zapfen der Nadelbäume. „Die DNS-Moleküle sind Spiralen; Wasser strömt in Spiralen; Luft bewegt sich in Spiralen als Wind, deutlich wird dies z.B. in Windhosen und Tornados, die auch Spiralen sind. Auch die Hoch- und Tiefdruckgebiete sind spiralförmig. Im Großen verlaufen die Wege aller Himmelskörper, von kleinsten Gesteinsbrocken, bis hin zu Planeten, Sonnensystemen, Galaxien und Sternennebeln, wahrscheinlich des Universums selbst, spiralförmig, in einer räumlichen Ellipse oder einem räumlichen Kreis bzw. Kugel. Die Spirale ist also auch Symbol des Universums. Rauch zeigt sich im Ruhezustand oft spiralförmig, vielleicht war das auch – neben der bewusstseinsverändernden Wirkung des Tabak – auch ein Grund für die Verwendung von Rauch(en) für kultische Zwecke (siehe Friedenspfeife der Indianer). In allen alten Religionen ist die Spiralform zu finden: so z.B. in keltischen Ornamenten, aber auch in christlichen Kirchen. Viele Funde aus alten Zeiten weisen die Spiralform auf, z.B. Gürtel- oder Mantelschnallen aus der Bronzezeit, Ringe und Armreifen, aber auch kultische Bauwerke, Steine und Zeichen, z.B. dorische Säulen, Tempel, Kirchen. Sehr häufig findet sich das Spiralsymbol auch in Grabstätten. […] Kultische Tänze wurden oft in Spiralform getanzt: Der Weg der Spirale ist der Weg hinein und wieder hinaus.“ 

(zitiert aus http://www.puramaryam.de)

Unser Wachstum ereignet sich in Spiralform. Wir denken ja oft, dass nichts weiter geht im Leben und wir uns im Kreis bewegen. Schon wieder sind wir am selben Punkt. Aber wenn wir genau hinsehen, können wir erkennen, dass es eben nicht derselbe Punkt ist. Wir sind reihum gegangen, aber eine Etage höher angekommen. Wir sind mal wieder beim selben Thema, aber auf einer höheren Bewusstseinsebene. Wir haben etwas dazu gelernt, aber das Ganze noch nicht restlos verarbeitet und integriert. Also weiter geht‘s. Noch eine Runde auf der Spirale. Aufwärts uns selbst entgegen.

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