Cradle-to-cradle, oder: die Wiederentdeckung des natürlichsten Prinzips der Welt

Text von Harald Koisser

Der Artikel ist auch als druckfreundliches PDF erhältlich: Cradle-to-cradle

Was ist cradle-to-cradle? Eine Wortschöpfung des deutschen Chemikers Michael Braungart (http://www.braungart.com), basierend auf einer Idee des Schweizer Textilkaufmanns Albin Kälin. Während alle Produkte, welche der Mensch herstellt, „von der Wiege ins Grab“ (cradle-to-grave) führen, weil alles irgendwann immer auf Mülldeponien landet, möge man sich die Natur zum Vorbild nehmen, wo niemals Abfall anfällt und immer alles wiederverwertet wird. Alles, was endet, ist wieder Nährstoff für etwas Neues. Stoffe reisen somit „von der Wiege zu Wiege“ (cradle-to-cradle). Nach diesem natürlichen Prinzip soll der Mensch seine Welt gestalten.

Es geht hier nicht um Downcycling oder Resteverwertung, sondern um eine hundertprozentige Wiedereinbringung von Stoffen in neue Kreisläufe, sei es, dass sie total verrottbar sind und zB. als Dünger verwendet werden können („biologische Nährstoffe“), sei es, dass sie nach Gebrauch wieder zu Ausgangsmaterial von anderen Produkten werden („technische Nährstoffe“). Die Idee in Kürze: Abfall = Nährstoff. Wobei auch diese Formel schon falsch ist, wie Braungart anmerkt, weil man den Terminus „Abfall“ gänzlich aus dem Vokabular streichen sollte. Es soll nichts mehr geben, was man als Abfall bezeichnen kann. Zahlreiche Projekte zeigen, dass das machbar ist. Jüngstes Beispiel: die österreichische Firma Backhausen hat ihre Produktion komplett nach cradle-to-cradle ausgerichtet.

Was hier mit einem schicken englischen Modebegriff daher kommt, beschreibt letztlich nichts als das natürlichste Prinzip der Welt, welches der Chemiker Hanswerner Mackwitz „das vielseitige schöpferische Vermögen der Natur“ nennt, welches „respektvoll annerkannt und genutzt“ werden möge. Es gelte, Diversität zu feiern. Die Erde ist so aufgebaut, dass alle Stoffströme sich in ewigen Kreisläufen befinden. Eine kleine Insel im Universum muss nolens volens mit dem auszukommen, was da ist. Ein bisschen Zufuhr an Metall von außen gibt es ab und zu, wenn ein Meteor auf der Erdoberfläche einschlägt, aber mehr Geschenke des Universums darf man sich nicht erwarten. Die Natur ist Meisterin im Verwerten. Alles was vergeht, geht ein und auf in etwas anderem. Sondermülldeponien gibt es in der Natur keine. „Cradle-to-cradle“ ist somit bloß ein Etikett, welches auf das seit 3,5 Milliarden Jahren erfolgreiche Betriebssystem dieses Planeten geklebt wird. So wie auf eine Banane ein Markenname geklebt wird, als hätte „Chiquita“ die Banane erfunden und erzeugt.

Es ist das zweifelhafte Privileg des Menschen, etwas unwiderbringlich von dieser Lebenskugel zu entfernen. So weit sind wir also, dass wir uns selbst das Allernatürlichste und Selbstverständlichste unter einem zeitgeistigen Markennamen neu verkaufen müssen. Cradle-to-cradle ist nichts, was erfunden wurde, es ist keine Innovation, es ist die Erinnerung des Menschen an sich selbst, sein Télos. Diesen griechischen Begriff kann man mit „Ziel“ übersetzen. Jeder Mensch hat sein Ziel, doch nicht in dem Sinne wie ein  Manager Ziele hat, sondern im Sinne von Zweckbestimmtheit. Dieser Télos lässt sich nicht erschaffen, er ist stets da und kann nur erinnert und wieder-gefunden werden. C2C ist die Wiederentdeckung des Umstandes, dass der Mensch Bestandteil der Natur ist, einer Natur, die in endlosen Kreisläufen agiert, weil dies die einzige Möglichkeit ist zu bestehen.

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