Die Welt ist voll Vorbilder

DER KOMMUNIKATIONSFACHMANN UND TRAUERBEGLEITER THOMAS NAGY HAT SICH AUF DIE SUCHE NACH VORBILDERN GEMACHT UND MIT VIELEN PROMINENTEN GESPROCHEN. VON BURKHART ELLEGAST BIS HELMUT SCHMIDT. DIE ERKENNTNIS AUS DEN GESPRÄCHEN IST SCHLIESSLICH BERUHIGEND EINFACH: ANSTATT HINAUF ZU SCHAUEN, SOLLTEN WIR LIEBER RUNDUM SCHAUEN. JEDER IST VORBILD! AUCH SIE, GESCHÄTZTE/R LESER/IN.

Wer braucht Vorbilder?

Jeder Mensch. Es ist in der Natur der Sache. Wir sind physiologische Frühgeburten,  können uns nicht aktiv bewegen und müssen herumgetragen werden. Wir sind abhängig von anderen Menschen. Indem wir uns an denen orientieren, haben wir auch schon Vorbilder. Die ersten, die da sind, sind die Eltern.

Die Eltern bringen uns das Gehen bei, auch Wertesysteme, erzeugen aber auch Abhängigkeit, von der man sich dann später befreien muss. Ein Vorbild hat also auch immer zwei Seiten. Wie sehr brauche ich denn dann als Erwachsener Vorbilder, wo es doch um Abnabelung und Selbstwerdung geht?

Die Familie ist das Eine. Wenn wir uns abnabeln und nach außen gehen, brauchen wir wieder jemanden, der zeigt, wie das gehen kann. Heute sind die Kinder sehr stark via Internet mit der Welt verbunden. Früher ist man vielleicht auf die Walz gegangen und war ein Jahr in der Welt unterwegs und hat sich so orientiert und die neuste Mode ins Dorf zurückgebracht. Da war man auch Innovator.

Wir gehen also gewissermaßen immer in die Lehre – real oder fiktiv.

Verachte mir die Meister nicht! Die Meisterschaft hat vielleicht etwas Antiquiertes an sich. Ich habe 2006 beschlossen, regelmäßig Meisterklassen stattfinden zu lassen, um mit einem oder mehreren Meistern Gespräche zu führen und mich auszutauschen. Zum Vorbild kann man sich nicht aktiv berufen, indem man sagt: ab morgen bin ich Vorbild. Man ist Vorbild durch das aktive Leben. Auf der anderen Seite braucht es Anerkennung. Ob ich Vorbild bin oder nicht, liegt bei den anderen, nicht bei mir selbst. Man kann sich somit auch gar nicht wehren. Auch im Negativen. So wie wir das Alltägliche meistern, sind wir Vorbild.

Das ist zu Beginn des Gespräches schon eine sehr beruhigende und lebensnahe Botschaft. Achte auf das, was du tust im Alltag. Auch wenn du keine Kinder hast, schauen andere Menschen auf dich. Wir sind alle Vorbilder füreinander.

Das ist auch das Ergebnis meiner Gespräche. Ich habe zwei Dutzend Gespräche über Vorbild und Wirkung geführt, und die Essenz daraus ist, dass sich das erhabene Thema herunter bricht auf fast banale Sätze: Ich kann von jedem lernen. Ich lerne von Kindern. Jeder Vorarbeiter ist Vorbild für seine Mitarbeiter. Das ist nicht Promis vorbehalten. Jedes Kind ist Vorbild in seinem Umfeld durch die Art, wie es sein Leben meistert und die Dinge angeht.

Was hat dich dazu gebracht, auf die Spuren der großen Vorbilder zu gehen? Du hast ja große Namen gesucht. Du hättest es ja auch anders machen können und etwa den Bäcker von nebenan interviewen können.

Das ist ein Entwicklungsprojekt. Es hat damit begonnen, dass ich bemerkt habe, dass ich immer zu Vorbildern tendiert habe. Wenn ich mich erinnere, habe ich mit 4 Jahren Lesen und Schreiben gelernt. Das waren die Insignien des Erwachsenseins. Ich hatte eine Klosterschwester im Kindergarten und habe mir von ihr Bücher ausgebogt. So Bücher mit Jesusgeschichten. Ich sehe mich noch in meinem kindlichen Allmachtdenken. Die Kindergartentante hatte etwas zu tun und hat uns kurz unbeaufsichtigt gelassen. Ich bin am Tisch gesessen und habe aus der Bergpredigt vorgelesen. Im Bilderbuch saß Jesus auf dem Felsen, und ich saß auf dem Tisch. Und da waren die Jünger und er hat sie geschult. Und alle Kinder sind am Boden gesessen und ich am Tisch. Und ich habe erfahren wie das im Wortsinn ist, wenn alle zu dir aufblicken. Und ich wurde dann in der Volksschule immer wieder bei öffentlichen Veranstaltungen oder, wenn der Schulinspektor gekommen ist, vorgeführt. Schau, der kann schon schreiben und lesen und kommt aus sozial schwachem Haus. Mein Vater ist als Ungarnflüchtling ohne einen Cent nach Österreich gekommen.

Das war Missbrauch.

Ja, klar. Als Jugendlicher hatte ich das Glück, im Stift Klosterneuburg zwei Priester zu haben, die als väterliche Mentoren aufgetreten sind. Vor einiger Zeit habe ich mir einen Bilderahmen gekauft mit 17 Aussparungen, wo man Fotos reinhängen kann. Ich wollte Fotos von Menschen verwenden, denen ich etwas zu verdanken habe. Ich habe jetzt Fotos von Einstein und Freud und dem Dalai Lama, habe mich aber nie entschließen können, die Fotos wirklich hinein zu geben. Ich habe mich nie entschließen können, wer jetzt wirklich meine Vorbilder sind. Diese Idealisierung – oder konkrete Vorbilder – das hat sich stark reduziert. Mir ist klar geworden, als Ausgangspunkt muss ich meinen Vater hineingeben, mit dem ich ja lange ein schwieriges Verhältnis hatte. Ich führte auch Gespräche mit einem mittlerweile 92-jährigen Mann, der im 2. Weltkrieg war, mit einer Frau, die 8 Kinder hat und 33 Jahre alt ist, mit einem Bluter, der mit HIV infiziert wurde … Das sind alles Vorbilder des Alltags.

Die nicht Prominenten sind also nun auch Bestandteil deines Projektes?

Zuerst wollte ich wissen, was man von Promis lernt. Aber jetzt wird es wohl auch Nachbarinnen und Kindergartenkinder als Promis geben. Chaim Eisenberg hat mir gesagt: Nur weil jemand gut Schifahren kann, ist er kein Vorbild.

Vielleicht ist das tatsächlich der Zustand unserer Zeit, dass Leute als Vorbilder gelten, die dadurch bekannt werden, dass sie unter dem Rock kein Höschen tragen. Das prägt ein Menschenbild.

Man muss differenzieren zwischen Vorbild, Idol und Ideal. Wir kreieren halt Idole als Modeerscheinungen. Diese ganzen Casting-Shows funktionieren so und missbrauchen in Wahrheit vorhandenes Potential. Wenn man sich das Dschungelcamp anschaut, sieht man die Bereitschaft der Menschen, durch Demütigung aufzufallen und das dann als Wert zu verkaufen. Wow, da ist jemand, der Raupen frisst. Ja, das haben die Leute im Schützengraben auch gemacht. Die haben sich über die Made in der Suppe gefreut, damit wenigstens ein paar Proteine dabei waren.

Das Vorbild zeichnet sich eher nicht durch Demütigung, sondern durch Demut aus.

Ganz gewiss. Das kommt auch in den Gesprächen heraus. Die erste Reaktion war oft: Bitte, frag jemand anderen. Ich bin kein Vorbild. Vor allem Frauen reagieren so. Ich bekomme kaum Gespräche mit Frauen, weil die diese Haltung haben. Demut, sich gut kennen, Spiritualität, – das sind Kernbestandteile der Vorbilder.

Seien wir für ein paar Sekunden nicht demütig. Ich ersuche dich dezidiert um Namedropping. Mit wem hast du gesprochen?

Ich habe Menschen genommen, auf die ich mit Respekt hinschaue. Ich freue mich, dass ich beim Bundespräsidenten war. Karl Blecha, Heinz Oberhummer, Johannes Huber (Theologe und Mediziner), Erhard Busek, Chaim Eisenberg, Michael Heltau, Sigrun Rossmanith. Sie ist Gerichtsgutachterin und hat mit schweren Jungs und Mädls wie Unterweger und Blauensteiner zu tun gehabt. Man muss sehen, dass es auch negative Vorbilder gibt. Die bekommen wahnsinnig viel Fanpost ins Gefängnis. Dann habe ich mit Marko Feingold, einem bald 101 Jahre alten Mann gesprochen, der vier KZs überlebt hat und von dem ich viel über Resilienz gelernt habe. Ich habe mit dem Clemens Hellsberg, Chef der Wiener Philharmoniker, gesprochen, Burkhart Ellegast, der von mir sehr geschätzte Altabt vom Stift Melk, über den Paolo Coelho gesagt hat, er sei sein spiritueller Lehrer. Ja, und auch mit Helmut Schmidt.

Was kommt nach all den Gesprächen heraus? Ich meine das jetzt nicht inhaltlich, sondern ganz praktisch. Wird es eine Publikation geben?

Es wird eine Internetplattform starten, wo mehrere Serienblöcke abgewickelt werden. Man wird sich die Gespräche in Einheiten von ca. 20 Minuten anhören können. Mein Freund Rainer Friedl hat fotografiert. Es wird eine Fotoausstellung geben in Kombination mit den Audiofiles. Und ich möchte die Interviews auch analysieren, mir Sprachmuster und Werte anschauen. Was und wie wird es gesagt, um zu erkennen, aha, ein Vorbild hat gewisse Attribute.

Was ist es denn, was sich wie ein roter Faden durch alle Aussagen durchzieht?

Allen gemein ist, dass Vorbildlichkeit eine einfache im Menschen angelegte Sache ist, sobald Leben gelebt wird. Wenn man zu sich steht. Alleine dadurch ist man schon Vorbild. Authentisch sein, kongruent sein. Nichts vorgeben, was man nicht ist. Man sagt immer, uns fehlen die Vorbilder. Wir sind auch gottloser geworden. Aber die Sehnsucht ist da. Wir wollen aufschauen und hinschauen. Da gibt es jetzt diese Scheinwelten. Wir haben verlernt, auf wahre Werte hinzuschauen, etwa auf die eigene Familie. Wenn Leute trauernd zu mir kommen, sage ich: nützt doch die Zeit mit den Lebenden. Fragt sie nach ihren Erfahrungen und ihrem Wissen. Man geht immer irgendwo hin zu einem Propheten, aber es ist ja alles da, ganz nah und unmittelbar.

Ist das auch ein didaktisches Anliegen von dir?

Ja, ich will den Leuten ein Orientierungsangebot geben. Wenn die Promis etwas sagen, was die Oma und das eigene Kind auch sagen, dann relativiert sich das alles. Da muss man nichts Großes von außen holen. Ich brauche Politik und Religion wohl nicht. Die Vorbilder sind viel näher als ich denke. Das Alltägliche gehört zur Vorbildwirkung.

Weil du vom Autoritätsverlust der Institutionen sprichst, frage ich, bei aller Wertschätzung vor der Person Heinz Fischer: wen interessiert das, was der Bundespräsident sagt?

Er hat für mich die spannendste Rolle, weil er oberster Österreicher ist und damit eine Vorbildrolle haben muss. Er hat das Amt und seine klare Aufgabe, und es gibt auch den Menschen. Kardinal König war in derselben Situation. Er war als Mensch sehr offen und liebevoll, musste aber in seiner Funktion den Adolf Holl ausschließen, weil er dieses Jesus-Buch geschrieben hatte. Ideal ist es, wenn Amt und persönliche Werte im Einklang sind. Oft muss man aber auch Dinge machen, wo das Herz eine andere Meinung hat.

Solchen Situationen kann man sich als einfacher Mensch oft nicht entziehen. Da will man schon wissen, wie das Prominente machen. Geben sie der sogenannten Pflicht den Vorzug? Oder der Ethik?

Für mich war wichtig, respektlos der Rolle gegenüber zu sein, aber respektvoll dem Menschen gegenüber. Ich wollte schon wissen, wie redet denn ein Bundespräsident. Der ist auch nur ein Mensch. In erster Linie.

Der Mangel an weiblichen Gesprächspartnerinnen ist sichtbar, wie du ja selbst erwähnt hast. Ist es so, dass es die weiblichen Vorbilder nicht gibt oder dass die Damen wirklich bescheidener sind als Männer. Oder vielleicht ist das Schweigen der Frauen auch sehr vorbildhaft.

Frauen konzentrieren sich nicht so auf Lobbying und Eigenvermarktung. Übrigens ist das Foto eine Hürde für Frauen. Sie wollen nicht fotografiert werden. Ich habe das auch von einer ORF-Moderatorin gehört. Die tun sich sehr schwer damit, Frauen zu so Live-Talks wie die ZIB2 zu bekommen. Da sagen Frauen: um diese Zeit? Da bin ich zuhause bei meinem Mann oder den Kindern. Das brauche ich nicht, mich im Fernsehen um Mitternacht wichtig zu machen. Frauen sehen sich nicht so sehr als Vorbild. Aber ich starte jetzt eine Frauenoffensive. Ich will weibliche Gesprächspartnerinnen.

Wer ist dein großes Vorbild?

Jesus, Buddha, ..

Alles Vorbilder, denen man ganz leicht nacheifern kann.

Das sind religiöse Vorbilder, und ich habe mir dann auch gedacht: außer Ted Neeley in seiner Rolle als Jesus in Jesus Christ Superstar kenne ich ja diesen Jesus gar nicht. Da ist es dann doch eher Max Strache, Sekretär von Bruno Kreisky. Von dem habe ich viel gelernt. Und schließlich reduziert es sich ja doch auf das: am meisten hat mich mein Vater geprägt.

Ich bin ausgegangen von der These, dass wir in unserer Gesellschaft kein Vorbild haben. Das stimmt aber nicht. Die Welt ist voller Vorbilder. Wir müssen nur die Potentiale, die vorhanden sind, vertrauensvoll nutzen, und die realistische Sicht auf die Umgebung haben. Auch der Nächste ist ein Vorbild. Ich werde einen Nigerianer interviewen, der hier ums Eck vor dem Kaufhaus Augustin-Verkäufer ist. Das ist ein junger, fescher Mann, der sein Leben ganz großartig meistert, und den werde ich auch präsentieren. In all seiner Demut und Würde.

Thomas J. Nagy

Unternehmensberater, Systemischer Coach, Lebens- und Sozialberater, Gesundheitswissenschaftler, Fachbuchautor, Mensch – und für manche vielleicht auch ein Vorbild.

www.immer.at

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