Du musst dein Leben ändern

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Kunst besitzt eine nicht-versklavende Autorität. Sie alleine darf uns noch etwas sagen. Zum Beispiel dies: Du musst dein Leben ändern. Harald Koisser über ein berühmtes Rilke-Gedicht, dessen Schlussätze wie von einem anderen Stern hernieder kommen.

Der große Dichter Rainer Maria Rilke hat eine zeitlang bei dem Bildhauer August Rodin als dessen Sekretär gearbeitet. Es war für Rilke „eine Schule des Sehens“, wie er anmerkte, und doch auch eine Bewegung im Dichterischen. Aus jener Zeit stammt eines der unglaublichsten Gedichte des an Unglaublichem sehr reichen Oevre Rilkes, nämlich das Gedicht „Archaiischer Torso Apollos“. Ein Torso ist eine plastische Darstellung eines menschlichen Körpers ohne Gliedmaßen. Torsi entstehen oft auch weniger aus künstlerischen als aus ideologischen Erwägungen, etwa wenn Menschen Statuen verstümmeln und ihnen Kopf und Gliedmaßen abschlagen. Wie das bildhauerische Werk tatsächlich aussah, das Rilke beschreibt, wissen wir nicht. Rilke imaginiert ein „unerhörtes Haupt“ und spart auch die Geschlechtswerkzeuge nicht aus – in Rilkes Diktion „jene Mitte, die die Zeugung trug“. Weltberühmtheit erlangte das Werk jedoch nicht durch die Beschreibung des Torsos an sich, sondern durch die gewaltigen Schlusszeilen, welche dem Gedicht eine für jede/n Leser/in unmittelbare Dramatik geben.

Hier das Gedicht:

Rainer Maria Rilke

Archaischer Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,

darin die Augenäpfel reiften. Aber

?sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,

?in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug

der Brust dich blenden, und im leisen Drehen

der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen

zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz

unter der Schultern durchsichtigem Sturz

und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern

?aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,

die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

Das Gedicht beginnt harmlos, indem es ein Kunstwerk beschreibt. Man kann sich an den Worten erfreuen und nach Belieben den Torso imaginieren oder sich an seinen letzten Museumsbesuch erinnern. Doch plötzlich kippt der Betrachtungswinkel. Gerade noch ist man selbst es, mit Rilke als Museumsführer, der den Torso betrachtet, und plötzlich heißt es: „Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht“. Gerade war ich es noch in meiner Rolle als Betrachter, der das Kunstwerk angesehen hat, und nun sieht es mich an. Und zwar umfassend und intensiv. Da ist keine Stelle, die mich nicht sieht. Das Kunstwerk entzieht sich der passiven Rezeption, es wird zum Akteur. Es sieht mich an. Rilke hätte auch harmloser formulieren können „Versuch einmal, es aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten“ oder „Große Kunst macht etwas mit dir“ oder dergleichen. Doch er wählt eine kraftvollere, verblüffendere Form.

Die ganze Wucht des neuen Blickwinkels folgt unmittelbar. Ein Satz wie von einem anderen Stern kommt hernieder: „Du musst dein Leben ändern“. „Das Stichwort zur Revolution in der 2. Person Singular“, wie Peter Sloterdijk anmerkt, „ich lebe zwar schon, aber etwas sagt mir in unwidersprechlicher Autorität: Du lebst noch nicht richtig.“

Der deutsche Philosoph selbst konnte sich dem Werk nicht entziehen und hat den Schlusssatz zum Titel eines Buches gemacht, in dem er auch umfassender und tiefer über das Gedicht räsoniert, als ich es hier vermag. „Die beiden Schlusssätze haben ein Eigenleben entwickelt. In ihrer gediegenen Bündigkeit und mystischen Simplizität strahlen sie eine kunstevangelische Energie aus.“ Und über Kunst an sich merkt Sloterdijk an: „Kunst hat eine nicht-versklavende Autorität. Sie darf uns noch etwas sagen, weil wir fühlen, dass sie uns nicht beengen will. Was sich selbst ausgesetzt und in der Prüfung bewährt hat, gewinnt unangemaßte Autorität.“

Dies ist das Wesen großer Kunst: Sie hat Autorität, die nicht anmaßend ist. Sie darf und vor allem: kann uns etwas sagen. Denn da ist keine Stelle, die uns nicht sieht.

So hat der Torso Rilke inspiriert, Rilke den Philosophen Sloterdijk (und sicher noch viele tausende andere Menschen) und Sloterdijk mich und diese Ausgabe von wirks. Ich verlängere die Wirkungsgirlande zu Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, und konfrontiere Sie mit dem absoluten Imperativ schlechthin: Du musst dein Leben ändern. Von mir müssen Sie sich soetwas wahrlich nicht sagen lassen. Ich lade Sie nur ein, auf jene Saite zu hören, die Rilke in Ihnen zum Schwingen bringt.

Ein Kommentar zu “Du musst dein Leben ändern”

  1. Ich habe das Buch vor zwei Jahren gelesen und dazu einen Kommentar verfaßt!
    Ich hab‘ ihn einmal an die Vereinigung ‚Medienkultur‘ zur Veröffentlichung geschickt,
    wollen Sie ihn haben?